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Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung
Die Idee, von ihm geschĂ€tzten BĂŒchern durch die Beschreibung ihrer LektĂŒre,
aber auch durch die bloĂe NacherzĂ€hlung ihrer Fabel literarisch seine Reverenz
zu erweisen, ohne sich dabei eines kritisch-analytischen Vokabulars zu bedienen,
findet sich bei Handke bereits sehr frĂŒh: etwa in dem 1967 im Band BegrĂŒĂung des
Aufsichtsrats gedruckten Prosatext Der ProzeĂ (fĂŒr Franz K.), der Kafkas Roman
mit zahlreichen wörtlichen Ăbernahmen erzĂ€hlerisch rekapituliert, ohne eine
wertende Position auĂerhalb des ursprĂŒnglichen Textes zu etablieren,93 oder im
ebenfalls 1967 erschienenen Bericht Als ich âVerstörungâ von Thomas Bernhard
las. Obgleich den beiden Texten ganz unterschiedliche literarische Verfahren
zugrunde liegen, dokumentieren sie doch jeweils Handkes Abkehr von den
Genrekonventionen literaturkritischer Publizistik, seine Erprobung neuer und
idiosynkratischer Formen des Schreibens ĂŒber Literatur.
Thomas Bernhards zweiter Roman Verstörung erschien am 15.Â
MĂ€rz 1967, die
letzte Insel-Publikation des Autors vor seinem Wechsel zu Suhrkamp; Handke
bekam ihn wohl kurz darauf vom gemeinsamen Verleger zugeschickt: âUnd noch
einen Dank: fĂŒr das Thomas-Bernhard-Buchâ, schreibt er am 23.Â
Mai an Siegfried
âFreie Figur unter den Dichternâ. [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In: News, Nr. 50, 14. 12. 2000,
S. 132)
93 Vgl. Peter Handke: Der ProzeĂ (fĂŒr Franz K.). In: P. H.: BegrĂŒĂung des Aufsichtsrats. Prosatexte.
Salzburg: Residenz 1967, S.Â
105 â 122. Der letzte Absatz von Handkes Text etwa ist mit dem letzten
Absatz von Kafkas Roman â bis auf minimale Abweichungen, die sich eventuell mit der von
Handke verwendeten Ausgabe erklĂ€ren lassenÂ
â identisch: âAber an K.âs Gurgel legten sich die
HÀnde des einen Herrn, wÀhrend der andere das Messer ihm ins Herz stieà und zweimal dort
drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an
Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. âWie ein Hund!â sagte er, es war, als
sollte die Scham ihn ĂŒberleben.â (Franz Kafka: Der ProceĂ. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt
a. M.: S. Fischer 1990 [= F. K.: Schriften TagebĂŒcher Briefe. Kritische Ausgabe], S.Â
312)Â
â Vgl. zu
diesem Text Norbert Gabriel: Peter Handke und Ăsterreich. Bonn: Bouvier 1983, S.Â
117 â 123, der
dessen QualitĂ€t allerdings kritisch beurteilt: âDie Form des hier gegebenen Berichts erinnert
in ihrem hilflosen Stil mit der AnhÀufung von Partizipien und dem Versuch, möglichst viel in
einem Satz zu sagen und die reine Handlung möglichst genau zu verfolgen, an schlechte Zei-
tungsartikel.â (ebd., S. 117) Vgl. hingegen die Ăberlegungen zu Handkes âretelling of Kafkaâs
novelâ als âcounter-versionâ bei Frank Pilipp: In Defense of Kafka: The Case of Peter Handke.
In: The Legacy of Kafka in Contemporary Austrian Literature. Hg. v. F. P. Riverside: Ariadne
Press 1997, S.Â
117 â 149, hier S.Â
123 f., sowie Reinhard Urbach: Die Rezeption Franz Kafkas durch
die jĂŒngste österreichische Literatur. In: Franz Kafka. Eine Aufsatzsammlung nach einem Sym-
posium in Philadelphia. Hg. u. eingel. v. Maria Luise Caputo-Mayr. Berlin, Darmstadt: Agora
1978, S.Â
183 â 193, hier S.Â
187: âEs ist eine NacherzĂ€hlung auf 18 Seiten, keine Inhaltsangabe. Dieser
Unterschied ist zu beachten. [âŠ] Handkes NacherzĂ€hlung ist keine Kritik des Romans, keine
Parodie des Stils, sondern: er nimmt Kafkas Roman zum AnlaĂ fĂŒr eine neue Geschichte; eine
Geschichte, die nicht mehr erzĂ€hlt wird, sondern berichtet.â
Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471