Seite - 49 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Da das Kursbuch keine Beschränkung der Gegenstände, von denen es handelt, kennt,
wird auch von Büchern darin die Rede sein. Die Zeitschrift versteht sich jedoch nicht
als Vehikel für Rezensionen, die Noten verteilen wollen. Die üblichen literarischen
Zwistigkeiten, denen kein anderes als ein rein lokales Interesse zukommt, können
anderswo ausgetragen werden.94
Das ‚Übliche‘ wird an dieser Stelle ausdrücklich zum Problem, das herkömmliche
und mit dem Ballast bildungsbürgerlich-selbstreferenzieller Gravität beladene
Genre der ‚Rezension‘ zum – in einem dezidiert progressiven publizistischen
Forum
– unerwünschten Ingrediens erklärt. Programmatiken wie diese können
als Beispiel dafür dienen, dass – mit Daniela Strigl gesprochen – die Rede von
der „Krise der Kritik“ mitunter Züge einer „Strategie“ trägt, „aus der der Kritiker
der Kritik den Distinktionsgewinn eigener Überlegenheit bezieht“.95
Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe
Handkes polemische Intervention gegen die etablierte Literaturkritik, sein „Zwei-
fel an der Leistungsfähigkeit der literarischen Tageskritik“,96 ist folglich auch und
gerade im Kontext einer Mitte der 1960er Jahre proliferierenden Diskussion über
deren Status und Praxis zu verstehen. Die spezifische theoretische Ambition von
Handkes Einsatz in dieser zunehmend heftiger geführten Auseinandersetzung wird
dabei erst vor dem Hintergrund anderer, in den intellektuellen Debatten der Zeit
artikulierter Verabschiedungen der Institution ‚Literaturkritik‘ ersichtlich. Dass im
August 1968 im Kursbuch für das kommende Heft der Zeitschrift ein Text Handkes
mit dem verheißungsvollen Titel Grablegung der Rezension angekündigt wurde,
der dann in der berühmten Nummer 15 allerdings nicht erschien,97 kann einerseits
als exemplarischer Hinweis auf die Einbettung von Handkes Polemiken in zeit-
genössische diskursive Formationen gelten: Seine ungeschriebene Grablegung hätte
sich im Umkreis einschlägiger Todesanzeigen, die Autor, Literatur und anderen
94 N. N.: Ankündigung einer neuen Zeitschrift. In: Kursbuch 1 (10. 6. 1965), H.
1, S.
1 – 2, hier S.
2.
95 Daniela Strigl: Alles muss man selber machen. Biographie, Kritik, Essay. Graz, Wien: Droschl
2018, S. 52. Dazu auch Gunther Nickel: Krise der Literaturkritik. Historische Dimensionen
eines aktuellen Themas. In: Kaufen! statt Lesen! Literaturkritik in der Krise? Im Auftrag der
Deutschen Literaturkonferenz hg. v. G. N. Göttingen: Wallstein 2006, S. 5 – 19.
96 Terhorst: Die Entstehung literarischen Ruhms (Anm. 53), S. 40.
97 Die Ankündigung findet sich im unpaginierten Anzeigenteil von Kursbuch 14, im Anschluss an
die „Redaktionellen Anmerkungen“. Vgl. dazu Karl Wagner: Handkes Endspiel. Literatur gegen
Journalismus. In: Mediale Erregungen? (Anm. 73), S. 65 – 76, hier S. 69; Henning Marmulla:
Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 189 u. 362,
Anm. 640. Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471