Seite - 322 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Alte Zöpfe, neue Pferde
Einer der Texte der Sammlung Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit, die
Johannes Freumbichler in den Jahren 1946 bis 1948 zusammengestellt hat, trägt
den Titel Das Neue, das Neueste. Er liefert freilich keine Ermunterung an den
Enkel, sich, zumal nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs, einen
dezidiert neuen, eigenständigen Weg zu suchen, sondern präsentiert eine ein-
dringliche Warnung vor den Marktschreiern des ‚Neuen‘:
Das Neue, das Neueste, mein Junge, möchtest du stets hören,
Und möchtest dein Gemüt mit diesem Rauschgift dir betören?
Sei auf der Hut vor diesem Neuen! Mit viel Geschrei
Wird es tagtäglich uns verkündet: „Ihr lieben Leut’ herbei, herbei!“ 179
Freumbichler assoziiert die Idee des ‚Neuen‘ in der Folge vor allem mit dem
Umwälzungspathos der Nationalsozialisten: Das „ganze Elend“ der jüngsten
Vergangenheit sei „aus diesem Neuen […] sturmflutartig über uns gekommen“,
und es seien, so heißt es weiter, gerade die „Spießgesellen des Neuen“, die nach
den Urteilen der Nürnberger Prozesse nun „alle schmählich hangen“.180 Nicht
das Neue
– im Sinne einer radikalen Abnabelung von der Gewaltgeschichte der
vergangenen Jahrzehnte – ist in Freumbichlers Augen das Gebot der Stunde,
sondern die Rückbesinnung auf eine ländliche und bodenständige Lebensweise:
„Die kühle, alte Weisheit unsrer Bauern kann allein uns besser betten“, sie sei
„das einzige Mixtum positum, gegen diese Pest, dies Neue“.181 Freumbichlers ein
wenig krudes Lehrgedicht schließt mit der nochmaligen Anrede an den „lie-
be[n] Enkel“, um diesem am Ende noch eine ewige „Weisheit“ mit auf den Weg
zu geben: „Erlösung, ist geweissagt, kommt einem Volke nur aus dem Bauern-
tum.“ 182 Bei der Lektüre von Bernhards frühen (kultur-)journalistischen Texten
gewinnt man den Eindruck, der junge Autor habe sich von dieser Lehre des
Großvaters, von der vehementen Ermahnung, dem Neuen stets zu misstrauen,
179 Freumbichler: Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit (Anm. 10), S. 50.
180 Ebd.
181 Ebd., S. 51. Mittermayer: Die Stimme des alten Meisters (Anm. 13), S. 32, hat darauf hingewie-
sen, dass die „konkreten zeitgeschichtlichen Phänomene“ in Freumbichlers Gedichten „keine
politische Erklärung“ erfahren, sondern „auf die fatalen Auswirkungen einer materialistisch-
areligiösen Moderne zurückgeführt“ werden.
182 Freumbichler: Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit (Anm.
10), S.
51. Zur Deutung der Aspekte
dieses Lehrgedichts vgl. Manfred Mittermayer: „Aufzuwachen und ein Haus zu haben.“ Thomas
Bernhards „Heimatkomplex“ in frühen und frühesten Texten. In: Ferne Heimat
– Nahe Fremde.
Bei Dichtern und Nachdenkern. Hg. v. Eduard Beutner u. Karlheinz Rossbacher. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2008, S. 186 – 202, hier S. 188 f.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker322
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471