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Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck
Nachdem Handke seine Tätigkeit als Autor von Essays und Besprechungen anderer
Bücher Anfang der 1970er Jahre zugunsten seiner eigenen literarischen Arbeiten
deutlich reduziert hatte, entdeckte er Mitte der 1970er Jahre
– wohl auch bestärkt
von der positiven Resonanz auf seinen Lenz-Aufsatz
– wieder eine gewisse Freude
am Rezensieren: „Nach meiner letzten Arbeit bin ich eigentlich in dem Zustand“,
teilt er am 8. Januar 1975 dem befreundeten Autor Nicolas Born mit, „daß ich
nur noch von anderen schreiben möchte, freilich mit mir als Unterstützung (für
die andern).“ 206 Bereits einige Monate zuvor, am 1.
Juni 1974, hatte Handke einen
Beitrag über Franz Kafka in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht;
auch dieser beginnt mit einer prägnanten Leseszene (einer Erinnerung an frühere
Kafka-Lektüren), die sogleich eine überraschende Wendung nimmt: „Es gab eine
Zeit, da las ich die Tagebücher von Kafka, seine Briefe, und auch das, was seine
Freunde über ihn geschrieben hatten, nur aus dem Grund noch einmal durch,
weil ich herausfinden wollte, ob er vielleicht Pickel gehabt hätte.“ 207 Noch heute
stelle er sich, so Handke, „immer vor, Kafka hätte als Heranwachsender Akne
gehabt, schmerzhafte, eiternde Schwellungen im Gesicht und am Hals“, obgleich
Freunde wie Max Brod ihn durchwegs als „schön“ bezeichnet hätten.208
Im weiteren Verlauf des kurzen Textes setzt Handke sein eigenes Schreiben
explizit mit seinen Reflexionen über Kafka in Beziehung, wenn er von seinem
Plan berichtet, „eine Geschichte [zu] schreiben, in der jemand, dadurch daß er
Akne bekam, alles mit anderen Augen anzuschauen begann. Diese Geschichte
sollte ‚AKNE‘ heißen. Das war vor langer Zeit, als meine Welt die Welt Kafkas war
und mein Held Dr. Franz Kafka.“ 209 Hier deutet sich
– indem Handke seine frü-
here Identifikation mit Kafkas Literatur einer distanzierteren Haltung zum Zeit-
punkt des Niederschrift gegenüberstellt 210
– bereits die Leitlinie der berühmten
(Peter Handke: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982 – 1987). Salzburg, Wien:
Residenz 1998, S. 351). Zur Idee des ‚Begleitschreibens‘ bei Handke vgl. grundlegend Struck:
Der Begleitschreiber (Anm. 65), bes. S. 13 f.
206 Peter Handke an Nicolas Born, 8. 1. 1975. In: N. B., P. H.: Die Hand auf dem Brief. Briefwech-
sel 1974 – 1979. In: Schreibheft (2005), H. 65, S. 3 – 35, hier S. 7. In diesem Brief an Born nennt
er u. a. seinen „Aufsatz über die amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith“, für den
er „allerdings 2 Monate gebraucht habe“ (ebd.); er erschien wenige Tage später, am 13. 1. 1975,
unter dem Titel Die privaten Weltkriege der Patricia Highsmith im Spiegel.
207 Peter Handke: Zu Franz Kafka. [1974] In: P. H.: Das Ende des Flanierens (Anm.
48), S.
153 – 155,
hier S. 153 (zuerst, anlässlich von Kafkas 50. Todestag am 3. 6. 1974, gedruckt als P. H.: Gewal-
tiger als alle Handlungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 6. 1974).
208 Ebd.
209 Ebd. Vgl. noch Hage/Schreiber/Handke: „Gelassen wär’ ich gern“ (Anm. 38), S. 172.
210 Vgl. Handke: Zu Franz Kafka (Anm. 207), S. 153 f.: „Wie habe ich mich in der Scham Kafkas
wiedergefunden
– nein, nicht wiedergefunden, sondern überhaupt erst einmal entdeckt
… und
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik262
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471