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SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht)
Der Kritiker als Hund, dem der âGeiferâ fortwĂ€hrend aus dem Maul tropft 292Â
â
ohne explizit auf die Lehre der Sainte-Victoire Bezug zu nehmen, aktuali-
sierte der Spiegel im Buchmessen-Herbst 1993 Handkes wenig schmeichelhafte
MRR-Ikonographie: Das Cover des Magazins vom 4. Oktober zierte, unter
dem Titel âDer VerreiĂerâ, Reich-Ranickis Kopf auf dem Körper und mit
den Ohren eines Hundes, eben im Begriff, ein Buch zu verschlingen. In der
Lehre der Sainte-Victoire hatte Handkes wanderndes Alter Ego der âDogge von
Puyloubierâ durch den Zaun âeine gelbe Pariser MĂ©trofahrkarteâ zugeworfen,
âund der Hund verwandelte sich auf der Stelle in einen Marder, die bekannt-
lich Allesfresser sind, und schlang mein Papier hinunterâ.293 Hier wie dort, in
der fiktionalen ErzÀhlung wie im investigativen Nachrichtenmagazin, handelt
es sich um einen Akt der Papyrophagie, der nicht den genĂŒsslichen Verzehr
eines Gourmets, sondern den rabiaten Hunger eines nicht eben wÀhlerischen
Omnivoren ins Visier nimmt.
Reich-Ranicki konnte fĂŒr das provokante Cover des Spiegels wenig VerstĂ€nd-
nis aufbringen: Er fĂŒhlte sich an die Bildsprache antisemitischer Hetze erin-
nert und protestierte in einem âKrisengesprĂ€châ mit Volker Hage und Hellmuth
Karasek heftig: Es handle sich, so der Karikierte, um âeine Infamie [âŠ] im
tief nationalsozialistischen Sinneâ;294 den Einwand Karaseks, die Vorlage des
Titelsujets stamme aus der satirischen Wochenschrift Simplicissimus,295 wollte
er nicht gelten lassen, vielmehr sah er darin eine schÀndliche Verunglimpfung
der gesamten Kritiker-Profession. Ein literarischer âAllesfresserâ wollte Reich-
Ranicki ebenso wenig sein wie ein âZerberusâ des Literaturbetriebs,296 obgleich
292 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 10), S. 56.
293 Ebd., S. 58 f.
294 Marcel Reich-Ranicki im GesprÀch mit Volker Hage und Hellmuth Karasek, Oktober 1993.
In: https://www.spiegel.de/video/reich-ranicki-karasek-hage-video-99010556.html (Stand
14. 10. 2020), 01:10 â 01:20. Vgl. dazu auch Hage/Schreiber: Marcel Reich-Ranicki (Anm. 57),
S. 147 â 149; Steiner: Literatur als Kritik der Kritik (Anm. 29), S. 144, Anm. 20.
295 Vgl. die Abb. in: Simpliccismus 1896 â 1933. Die satirische Wochenschrift. Hg. v. Reinhard Klimmt
u. Hans Zimmermann. Stuttgart: LangenMĂŒller 2018.
296 Diese Funktion hatte Peter Turrini den Kritikern bereits 20Â
Jahre zuvor in toto zugeschrieben.
Siehe Peter Turrini: Kulturkritik. [1974] In: P. T.: Mein Ăsterreich. Reden, Polemiken, AufsĂ€tze.
Darmstadt: Luchterhand 1988, S. 27 â 39, hier S. 29 u. 34. â Auch die Schilderung in Die Lehre
der Sainte-Victoire spielt auf die Figur des Zerberus an, wenn Handke aus dem Sechsten Gesang
von Dantes Inferno zitiert, in dem das âUntier Zerberusâ auftritt (Dante Alighieri: Die göttliche
Komödie. Aus dem Italienischen v. Philaletes. ZĂŒrich: Diogenes 1991, S. 39). â Vgl. Handke:
Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 10), S. 58: âund der Stacheldraht zwischen uns, wie im
alten Gedicht, wieder als ewiger, vermaledeiter, kalter, schwerer Regen, durch den hindurch ich,
geistesgegenwĂ€rtig und tagtrĂ€umend zugleich, den Feind betrachteteâ; dazu im Detail Albes:
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki204
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471