Seite - 212 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Zwar mĂŒsse er, so Handke, âder Gerechtigkeit halber sagenâ, dass er âim Laufe
der 25Â Jahre, die ich seine Rezensionen lese, doch zwei, drei vor Augen bekom-
men habe, die ein Geheimnis von dem Buch mitteilenâ, vor dem Hintergrund
ihrer gemeinsamen Konfliktgeschichte jedoch werde er ihm ânie [âŠ] auch nur
das Kleinste verzeihen könnenâ: âEs ist ja so: In der âFAZâ wurde ein Jahrzehnt
lang jedes einzelne meiner BĂŒcher zerfleddert wie von Strauchdieben. Und er
war der Oberstrauchdieb.â 334 Reich-Ranicki habe in den 1980er Jahren als Lite-
raturchef der FAZ auf andere Kritiker eingewirkt, d. h. Verrisse gezielt in Auftrag
gegeben. Handkes Bemerkungen sind ein Beispiel dafĂŒr, dass Schriftsteller kri-
tische Rezensionen oft ânicht nur dem Individuum des Rezensentenâ zuschrei-
ben, âsondern auch der Institution des Rezensionsorgansâ.335 Handke sah die
Rezensionspolitik der FAZ, deren Literaturteil Reich-Ranicki bis 1988 dirigierte,
zuallererst als abgekartetes Spiel.
âErzĂ€hlen heiĂt auch Spurenverwischen; die Hunde finden deine FĂ€hrte nicht
mehrâ 336Â â Handkes im Januar 1983 notierte Hoffnung, man werde sich kĂŒnftig
nicht mehr ĂŒber den Weg laufen, hatte sich jedenfalls nicht erfĂŒllt. Noch Mitte
der 1990er Jahre belauerten sich die beiden Kontrahenten gegenseitig und lieĂen
kaum eine Gelegenheit aus, ihr Missfallen ĂŒber das Tun und Schreiben des jeweils
anderen zu bekunden.
Unversöhnt: letzte Gefechte
(In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus)
Im April 1997 folgte die letzte Besprechung eines Handke-Buches im Litera-
rischen Quartett. Ein weiteres Mal klagte Reich-Ranicki darĂŒber, dass sich
âzu [s]einem groĂen Leidwesenâ sowie âzur Schande der deutschen Kritikâ in
zahlreichen Rezensionen eine unbotmĂ€Ăige âFaszinationâ fĂŒr Handkes BĂŒcher
offenbare. Diese unkritischen Lobeshymnen zeichneten sich, wie im Fall des
aktuellen Romans In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, durch
âehrerbietige Inhaltsangabenâ aus und seien nicht imstande, kritische Distanz
334 Ebd. Zu Handkes langdauernder Kontroverse mit der FAZ vgl. Thomas Anz: Literaturkritisches
Argumentationsverhalten. AnsÀtze zu einer Analyse am Beispiel des Streits um Peter Handke
und Botho StrauĂ. In: Literaturkritik â Anspruch und Wirklichkeit (Anm. 26), S. 415 â 430,
hier S. 417, sowie Kap. III, Abschnitt âEinwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die
Literaturkritikâ.
335 Carlos Spoerhase: Ausweitung der literarischen Kampfzone: Was die Geschichte der aufklÀre-
rischen Rezensionskultur die aktuelle Reflexion ĂŒber Literaturkritik lehren könnte. In: Zeit-
schrift fĂŒr Germanistik. N. F. 19 (2009), H. 1, S. 171 â 178, hier S. 175.
336 Handke: Am Felsfenster morgens (Anm. 223), S. 23.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki212
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471