Seite - 82 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 82 -
Text der Seite - 82 -
Verkaufszahlen schielend, zu âverratenâ. Die âJournalisierungâ der Literatur, die
Robert Musil schon Mitte der 1920er Jahre diagnostiziert und beklagt hatte, die
Gefahr, dass âdie Literatur der Literatenâ durch jene der Journalisten âersetz[t]â
werde,73 beschÀftigt Peter Handke jedenfalls seit langer Zeit.
âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik
Noch in seinem vorletzten Brief an Siegfried Unseld vom 20. November 1988 â
in jener Zeit, als die Beziehung zwischen Verleger und Autor so sehr auf dem
Spiel steht wie selten zuvorÂ
â hĂ€lt Bernhard zur skandalumwitterten AuffĂŒhrung
seines StĂŒcks Heldenplatz am Wiener Burgtheater fest: âLeider sind alle Kriti-
ken Blödsinn, weil die Leute sich nie die MĂŒhe machen, das Buch zu lesen, sie
schauen ja nicht einmal wirklich hinein; aber das bin ich gewöhnt. Die Zukunft
wird gerade dieses StĂŒck als ein ganz besonderes erkennen und mir in allen
Punkten rechtgeben.â 74 Man muss Bernhard hier eine gewisse Triftigkeit sei-
ner EinschĂ€tzung zugestehen, hatten sich doch groĂe Teile der Diskussion um
Heldenplatz in der (Boulevard-)Presse an mutwillig ausgewÀhlten und aus dem
Zusammenhang gerissenen Textpassagen entzĂŒndet, wĂ€hrend deren Funktion
im dramaturgischen GesamtgefĂŒge des StĂŒcks geflissentlich ignoriert wurde.75
73 Robert Musil: Der âUntergangâ des Theaters. [1924] In: R. M.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf
FrisĂ©. Bd. II: Prosa und StĂŒcke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und
Reden. Kritik. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2000, S. 1116 â 1131, hier S. 1128.
74 Bernhard an Unseld, 20. 11. 1988. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 11), S. 802.
Im gleichen Brief teilte er Unseld seinen Entschluss mit, ein weiteres Buch im Residenz Ver-
lag zu veröffentlichen (In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn). In seinem Antworttelegramm
vom 24.11. formulierte Unseld seine endgĂŒltige Kapitulation: âlieber herr bernhard / ich habe
gestern ihren brief vom 20. november erhalten. fuer mich ist eine schmerzensgrenze nicht
nur erreicht, sie ist ueberschritten. nach all dem, was in jahrzehnten und insbesondere in den
beiden letzten jahren an gemeinsamem war, desavouieren sie mich, die ihnen gewogenen und
fuer sie wirkenden mitarbeiter, und sie desavouieren den verlag. ich kann nicht mehr. / ihr
siegfried unseldâ (ebd., S. 805). In der Folge kam es aber noch zu einem letzten persönlichen
GesprÀch der beiden in Salzburg, zwei Wochen vor Bernhards Tod (vgl. dazu den Kommentar
ebd., S. 806 â 811).
75 Vgl. Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm. 41), S. 389: âIn Bernhards SpĂ€twerk, das belegen
die Skandale zu HolzfÀllen, Alte Meister und Heldenplatz, wird jede Aussage seiner Figuren zu
einer persönlichen Stellungnahme des Autors simplifiziert.â Siehe schon Huntemann: Artistik
und Rollenspiel (Anm.Â
10), S.Â
195: Die in Heldenplatz âvon der fiktiven Figur Professor Schuster
betriebene Ăsterreichbeschimpfung entfachte, von der Presse vorab in Ausschnitten veröffent-
licht, bereits vor der UrauffĂŒhrung EntrĂŒstungsstĂŒrme, als sei sie vom Autor selbst, auĂerhalb
eines fiktiven Kontextes, geĂ€uĂert worden.â Zur Rekonstruktion des Konflikts vgl. Oliver Bentz:
Thomas BernhardÂ
â Dichtung als Skandal. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2000; Robert
Weninger: Wien: Heldenplatz. Viel Ărger um Thomas Bernhard. In: R. W.: Streitbare Literaten.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik82
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471