Seite - 293 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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bis zwei Uhr mittags im Gerichtssaal: Richtlinienvertreter, Mußmaßungstalent, Per-
spektivenanheuerer: der Staatsanwalt und der betrügerische Wirtschaftsagent, der
ins Zuchthaus muß: die zwei Justizwachebeamten packen ihn, schlagen ihm auf den
Kopf und stoßen ihn die Gefangenenhaustreppe hinunter: er hat sich der Welt ganz
einfach entzogen (TBW 11, 93)77
Ganz am Ende des Textes markiert die Behauptung des Erzählers, wonach „das
wichtigste“ sein „Buch“ sei und „nicht das Demokratische Volksblatt“ (TBW 11,
106), die Emanzipation des Schriftstellers vom Handwerk des Journalisten. Die
Passage verdeutlicht die Diskrepanz zwischen notwendigem Brotberuf und selbst
gewählter Berufung: „um fünf Uhr sitze ich an meinem Schreibtisch: das ist mein
einziger Triumph“ (TBW 11, 106). Als ihn gleich darauf „der Chefredakteur beim
Ärmel“ packt, ihn „auf die Seite“ zieht und ihm „eine Stelle als Lokalredakteur“
anbietet, hat er daran kein Interesse mehr: „nein, / ich habe mich dieser Stadt
schon entzogen“ (TBW 11, 107).
„zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger
Demokratischen Volksblatt
Nachdem sich Thomas Bernhard in seinem ersten journalistischen Artikel vom
Juli 1950 im politisch weit rechts stehenden Salzburger Volksblatt dem Andenken
seines Großvaters Johannes Freumbichler gewidmet hatte, arbeitete er ab Januar
1952 für das sozialistische Demokratische Volksblatt nicht nur als Gerichtsbericht-
erstatter, sondern auch als Feuilletonist und Kulturredakteur. Auf die bereits
genannte Reportage über ein Flüchtlingslager (11. Januar 1952), auf deren Zuge-
hörigkeit zum literarischen Werk er Jahre danach ausdrücklich bestanden hat,78
folgte zehn Tage später ein ausführlicher, mit dem Kürzel „Th. B.“ gezeichneter
Artikel über die Situation junger Schriftsteller in Österreich – ein Thema, das
seine Beiträge im Demokratischen Volksblatt im Lauf der Jahre begleiten sollte:
77 Laut Kommentar der Werkausgabe hat Bernhard den Namen der Zeitung erst 1988 im Zuge
der Vorbereitung der Publikation eingefügt. Vgl. TBW 11, 345.
78 Als Reaktion auf die Zusammenstellung einer Werkgeschichte (1981) durch Jens Dittmar klagte
Bernhard in einem Gespräch mit Siegfried Unseld, dass jene Texte, die Dittmar „als erste aus-
gegeben“ habe, „gar nicht die ersten Texte“ gewesen seien: „Er hätte“, so notiert Unseld in sei-
nem Reisebericht, „in der von Herrn Kaut herausgegebenen ‚Demokratischen Zeitung‘ [sic]
ein Flüchtlingslager besprochen, das sei sein erster Text, aber den habe Herr Dittmar nicht
gefunden.“ (Unseld: Reisebericht [Februar 1982]. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel
[Anm. 36], S. 649) – Vgl. Manfred Mittermayer: Das Salzburg des Thomas Bernhard. Berlin:
Edition A. B. Fischer 2017, S. 31 f.
Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471