Seite - 221 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“:
PETER HANDKES GEGENMODELLE
ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK
„Aber ich bin kein Kritiker“
Gut zwei Monate nachdem Peter Handke in einem Brief an Siegfried Unseld die
intellektuelle Dürftigkeit und Voreingenommenheit vieler Rezensionen seines
Debütromans Die Hornissen beklagt hatte, wandte er sich im August 1966 erneut
an seinen Verleger, nun jedoch nicht mehr mit der Idee einer groß angelegten
Entgegnung, einem „Artikel gegen all diese Kritiker“, „die die Konsumliteratur,
zum Beispiel die Romane eines Günter Grass, zur literarischen Norm erheben
wollen“,1 sondern mit dem Plan, selbst als Kritiker zu arbeiten:
Und eine Bitte: wäre es, glauben Sie, möglich, daß ich in einer angesehenen Zeitung
oder Zeitschrift ab und zu Bücher rezensiere? Selbstverständlich werde ich mich
selber dafür interessieren, aber ich dachte, vielleicht wäre es nicht allzu schlimm für
Sie, mir dabei irgendwie zu helfen (nicht beim Rezensieren). Es geht mir nicht so sehr
um ein Honorar, sondern um die Möglichkeit, meine Meinung von Literatur (ohne
Beschimpfungen) zu erklären. Ich möchte nicht klein beigeben.2
Obschon er in der Folge keineswegs darauf verzichtete, direkte Antworten auf
negative Besprechungen zu lancieren (und von „Beschimpfungen“ nicht dauer-
haft Abstand nahm), hat der Autor, immer noch ein Neuling im literarischen
Feld, hier ganz offensichtlich etwas anderes im Sinn: Statt auf die Beiträge
anderer polemisch zu reagieren, wollte er selbst eine aktive Rolle übernehmen.
Handke war bislang, abgesehen von seinen „Bücherecke“-Feuilletons für Radio
Steiermark – der letzte von ihm gestaltete Beitrag wurde am 12. September
1966 gesendet 3 –, lediglich mit einer Besprechung von Ror Wolfs Fortsetzung
des Berichts in der Wiener Literaturzeitschrift Wort in der Zeit als Rezensent in
1 Peter Handke an Siegfried Unseld, 20. 6. 1966. In: P. H./S. U.: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund
Fellinger u. Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 35.
2 Handke an Unseld, 29. 8. 1966. In: ebd., S. 41.
3 Vgl. Peter Handke: Tage und Werke. Begleitschreiben. Berlin: Suhrkamp 2015, S.
12 – 16 u.
281 – 283.
Dazu grundlegend die Ausführungen von Alfred Holzinger: Peter Handkes literarische Anfänge
in Graz. In: Peter Handke. Hg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S.
11 – 24;
Adolf Haslinger: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. Salzburg, Wien: Residenz 1992,
S. 84 f., 94 – 99 u. 118 – 121; Georg Pichler: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine
Biografie. Wien: Ueberreuter 2002, S. 50 – 60.
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471