Seite - 266 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 266 -
Text der Seite - 266 -
In seinen Arbeiten ĂŒber Bernhard und Lenz hatte Handke die LektĂŒre als posi-
tive Erfahrung in den Mittelpunkt gestellt. Sein entschiedenster Einwand gegen
Strucks Roman besteht nun gerade darin, dass dieserÂ
â âmit geschlossenen Sin-
nenâ 228Â
â keinen Raum fĂŒr die individuelle Wahrnehmung des Lesers lasse, ja die
Offenheit der Àsthetischen Erfahrung behindere. Nicht nur in seinen empha-
tischen LektĂŒreberichten folgt Handke der Idee, âdas Lesen, wie auch immer,
weiter zugebenâ,229 sondern auch die kritischen EinwĂ€nde gegen bestimmte BĂŒcher
gehen von den Schwierigkeiten, Herausforderungen und EnttÀuschungen bei der
LektĂŒre eines Buches, nicht von einem abstrakten WertmaĂstab aus.
Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt?
In einer Umfrage unter Kritikern des Westdeutschen Rundfunks nannten diese
im Jahr 1973, nach ihren Vorbildern und Anregern befragt, Peter Handke immer-
hin an siebter Stelle, zwischen Jean-Paul Sartre auf Platz sechs und GĂŒnter Grass
auf Platz acht, noch vor Theodor W. Adorno (neun) und Martin Walser (zehn).
Dass zu diesem Zeitpunkt Heinrich Böll den ersten Platz einnahm, wÀhrend die
pole position 15Â
Jahre spÀter bei einer erneuten Umfrage an Marcel Reich-
Ranicki
(vor Heinrich Vormweg und Joachim Kaiser) ĂŒberging,230 verweist einerseits auf
die Verschiebungen im Renommee der genannten Personen, andererseits auf die
zunehmend herausgehobene Position Reich-Ranickis, der sich nach und nach zum
âLiteraturpapstâ gemausert hatte. Die Nennung Handkes â 1988 scheint er nicht
mehr auf â zeigt indes, dass er in der ersten HĂ€lfte der 1970er Jahre als jemand
wahrgenommen wurde, der ĂŒber den engeren Bereich des literarischen Schreibens
hinaus auch in literaturkritischen Debatten Entscheidendes und Anregendes bei-
zutragen hatte.
Die WertschĂ€tzung fĂŒr Handke nicht nur als Schriftsteller, der mit Publikums-
beschimpfung (1966), Kaspar (1968), Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970)
oder Wunschloses UnglĂŒck (1972) rasch symbolisches Kapital im literarischen Feld
allg. ProduktivitĂ€t der Kafkaâschen Axt-Metapher Katrin Kohl: Poetologische Metaphern. For-
men und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin, New York: de Gruyter 2007, S.Â
190 â 193.
Dazu auch Handkes Notat aus dem MĂ€rz 1988: âDas Kunstwerk, die sanfte Lebensohrfeige
(âBackpfeifeâ hin zum Leben) (es muĂ nicht immer âdie Axt fĂŒr das gefrorene Meer in unsâ
sein)â (Handke: Gestern unterwegs [Anm. 70], S. 144).
228 Handke: Denunziation ohne Wahrnehmung (Anm. 221), S. 147.
229 Handke: Drei Zitterer an der homerischen Quelle (Anm. 69), S. 166.
230 Die Angaben entnehme ich Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001,
S. 76. AusfĂŒhrliche Informationen zu den beiden Umfragen finden sich in Reinhold Viehoff:
Literaturkritik 1973 und 1988. Aspekte des literaturkritischen Wertewandels. In: LiteraturkritikÂ
â
Anspruch und Wirklichkeit (Anm. 7), S. 440 â 459.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik266
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471