Seite - 362 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Zielt Der pensionierte Salonsozialist vorderhand auf eine provokative
âDekonstruktion des Bundeskanzlersâ 55 als âHalbseidensozialistâ und ârosaroter
Beschwichtigungsonkelâ (TBW 22.1, 622) ab, folgt Bernhards âGastkommentarâ
doch in AnsÀtzen auch einem literaturkritischen Impetus, indem er die Geste
der Huldigung und somit die Darstellungsverfahren der beiden Autoren einer
strengen PrĂŒfung unterzieht. Das âkuriose Buchâ sei âmiserabel geschriebenâ und
sollte, so Bernhard, eigentlich ânur in ausgesuchten Devotionalienhandlungen
verkauft werdenâ (TBW 22.1, 621 f.):
Nicht nur die Sprache stelzt durch das ganze provinziell-pompös-aufgeschranzte
Buch, auch der Kanzler. Und wenn er nicht stelzt, so sitzt er gespreizt oder reckt,
wĂ€hrend er geht, seinen Kopf in die Unendlichkeit. Dann zeigt er sich wieder mĂŒde
und abgespannt von den MĂŒhen des Weltenlaufs, wie groĂe MĂ€nner, die Welt-
geschichte machen, halt so sind â und dann wieder leutselig wie ein Hutschen-
schleuderer. (TBW 22.1, 623)
Auf Johannes Mario Simmels populÀren Roman Der Stoff, aus dem die TrÀume
sindÂ
â nicht von ungefĂ€hr auf ein Buch der Unterhaltungsliteratur!Â
â anspielend,
konstatiert Bernhard pointiert eine âfantastisch authentisch[e]â Entsprechung
von Form und Inhalt: âAndererseits ist in dem Buch alles wahr, es ist ganz aus
dem Stoff, aus dem unser Kanzler ist.â (TBW 22.1, 622) Der Rezensent arbeitet
sich am Image Kreiskys und an den etablierten Formeln, in denen ĂŒber den
Kanzler gesprochen wird, gleichermaĂen ab: So greift er das Anfang der 1970er
Jahre geprĂ€gte Wort vom âSonnenkönigâ Kreisky auf,56 um es angesichts des im
JubilĂ€umsband gedruckten Bildmaterials zum âHöhensonnenkönig im Pensio-
nisten-Lookâ zu verschĂ€rfen (TBW 22.1, 622) â ihm ist es um die Verspottung
des Politikers ebenso zu tun wie um die Denunziation der beiden Autoren.
âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke
Obgleich auf Umwegen, so ist doch auch fĂŒr die skizzierten Polemiken gegen
Bruno Kreisky die Konkurrenz zwischen Thomas Bernhard und Peter Handke
von Interesse, Ă€uĂerte sich doch Letzterer nach seiner RĂŒckkehr nach Ăster-
reich Ende der 1970er Jahre in mehreren Interviews betont positiv ĂŒber Kreisky.
âVon keinem Politiker, auĂer vom Kreisky, habâ ich jemals eine Antwort gekriegt
55 Clemens Götze: âMit allen Anzeichen der Empörungâ. Thomas Bernhard als Leserbriefschreiber.
In: Text + Kritik (42016), H. 43, S. 52 â 65, hier S. 55.
56 Vgl. dazu Petritsch: Bruno Kreisky (Anm. 13), S. 198.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard362
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471