Seite - 63 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN:
EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK
Sehlustfeindliche Schwätzer
Im postum publizierten Berliner Journal hat Max Frisch im Frühjahr 1973 Rezen-
sionen als „lesenswert wie Börsenkurse“ bezeichnet. In der kurzen Notiz geht er
von der feuilletonistischen Rezeption des gerade erschienenen Arbeitsjournals
von Bertolt Brecht aus, um in weiterer Folge die Erwartungshaltung der Kritik
allgemein skeptisch in den Blick zu nehmen: „Was genau unter Privat zu ver-
stehen ist, muss keiner von ihnen definieren; man weiss schon so ungefähr, was
verlangt ist, was hingegen ganz und gar schmählich, und handkehrum ihr Ent-
zücken: Man darf wieder Ich sagen, weil Peter Handke es gewagt und gekonnt
hat.“ 1 Der Schweizer Schriftsteller
– auf den Wunschloses Unglück „den grössten
Eindruck gemacht“ hatte, weil der „Virtuose“ Handke nun „plötzlich
[…] etwas zu
melden“ habe, sodass er, Frisch, sich „nicht mehr frage, warum ich lese“ 2
– spielt
mit dem Vergleich von Literaturkritik und Börsenkurs auf gleich zwei vermeint-
liche Probleme der Branche an: zum einen auf die eingeschliffenen Muster und
Ressentiments der Literaturkritik, die sich um die Reflexion ihrer Analysekate-
gorien nicht ausreichend kümmere und deshalb kaum erkenntnisfördernde oder
gar lesenswerte Texte hervorbringe; zum anderen auf das ökonomische Kalkül
(Stichwort Bestsellerliste), das in einem kapitalistisch organisierten Kulturbetrieb
hinter weiten Teilen des Literaturjournalismus stehe. Beide Vorwürfe begleiteten
und begleiten die Geschichte der Literaturkritik seit langer Zeit.3 Sie zählen, wie
sich an vielen Beispielen zeigen lässt, zum fixen Repertoire, zum Generalbass
1 Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas Strässle unter Mitarb. v. Margit Unser.
Berlin: Suhrkamp 2014, S. 80.
2 Ebd., S.
27. Handke indes zeigte sich, geht man nach einer Notiz von Siegfried Unseld, wenig später
von Frischs Erzählung Montauk wenig begeistert: „Sehr kritische Äußerung über die gespielte
Ehrlichkeit von Frischs ‚Montauk‘.“ (Siegfried Unseld: Reisebericht Paris, 20./21. November
1975. In: Peter Handke/S. U.: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor.
Berlin: Suhrkamp 2012, S. 296)
3 Vgl. Oliver Pfohlmann: Kleines Lexikon der Literaturkritik. Marburg: LiteraturWissenschaft.de
2005, S.
31 f.: „Zu den immer wieder gegen die Kritik erhobenen Vorwürfen gehören Käuflichkeit
bzw. Korruption, fehlende ästhetische Maßstäbe, Parteilichkeit, illegitime Machtanmaßung, die
Vernichtung von Autorenexistenzen, der elitäre Ausschluss breiter Publikumsschichten, popu-
listische Simplifizierung, die Dominanz ästhetischer, ethischer oder politischer Maßstäbe.“ Zur
„Kritik der Institution Literaturkritik“ vgl. grundlegend Wolfgang Albrecht: Literaturkritik.
Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 85 – 97.
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471