Seite - 150 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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um die Sache der Literatur, um die Verteidigung poetischer Verfahren gegen
einen unverstÀndigen oder missliebigen Kritiker; vielmehr verweisen Beispiele
wie diese auf die Bereitschaft zur sprachlichen Eskalation, die in öffentlichen
Debatten allenthalben und zum Schaden aller Beteiligten anzutreffen ist.
Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ
Anhand des Essays Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit lĂ€sst sich zei-
gen, dass Handkes Polemiken gegen die gÀngige Praxis der Literaturkritik nicht
bloĂ als ZurĂŒckweisung ablehnender, weil Ă€sthetisch âunsensiblerâ Urteile ĂŒber
seine BĂŒcher zu verstehen sind. Sie haben darĂŒber hinaus eine wichtige Funk-
tion sowohl fĂŒr die poetologische Selbstreflexion als auchÂ
â mit GĂ©rard Genette
gesprochenÂ
â fĂŒr die Sicherstellung einer ârelevanteren LektĂŒreâ 31 seiner eigenen
Texte. Handkes Einspruch gegen bestimmte Verfahren der Kritik und seine For-
derungen an eine neue, der zeitgenössischen Literatur adÀquate Beschreibung
von avancierten Texten sind stets mit seinen Ăberlegungen zur Ăsthetik des
literarischen Schreibens selbst, zumal des eigenen Schreibens, verknĂŒpft. Aus
dieser Warte erhalten Handkes EinwÀnde gegen Reich-Ranicki als Person, als
âunwichtigste[n], am wenigsten anregende[n], dabei am meisten selbstgerechte[n]
deutsche[n] Literaturkritiker seit langemâ,32 erst im Verbund mit den parallel dazu
formulierten EinwÀnden gegen die von Reich-Ranicki propagierte literarische
Ăsthetik und deren Akteure ihre volle polemische Sprengkraft.33
Es liegt nahe, Handkes pointierte Besprechung von Reich-Ranickis Litera-
tur der kleinen Schritte in den manuskripten nicht zuletzt als FortfĂŒhrung und
Zuspitzung frĂŒherer essayistischer Positionen zu beschreiben.34 Zentrale Aspekte
mehr schrieb, haben sich âFAZâ-Leute dazu hergegeben, in seinen Diensten meine BĂŒcher anzu-
faulen. Nie werde ich ihm auch nur das Kleinste verzeihen können.â (Sven Michaelsen: âAb
und zu sticht mich ein Teufelchenâ. [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In: stern, Nr.Â
52, 22. 12. 1994,
S. 124 â 130, hier S. 126)
31 GĂ©rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort v. Harald
Weinrich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 10.
32 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm. 2), S. 206.
33 Vgl. dazu grundlegend Lorenz: Die Ăffentlichkeit der Literatur (Anm. 25), S. 194 â 197.
34 Vor allem in Zur Tagung der Gruppe 47 in USA (1966) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms
(1967), aber auch in den Rundfunkessays fĂŒr die Sendung âBĂŒchereckeâ des Landesstudios
Steiermark aus den Jahren 1964 bis 1966. Karl Wagner: Handkes Arbeit am 19. Jahrhundert:
Roman- und Realismuskritik. In: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen
in der ErzĂ€hlliteratur des 19.Â
Jahrhunderts. Hg. v. Sabine Schneider u. Barbara Hunfeld. WĂŒrz-
burg: Königshausen & Neumann 2008, S. 403 â 412, hier S. 408, hat Marcel Reich-Ranicki und
die NatĂŒrlichkeit als ânachgereichte[Â ] Polemikâ zu Handkes in Princeton lancierten Argu-
menten bezeichnet.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki150
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471