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Vom âStreben nach eigener Billigungâ
(Der Untergeher, Der Theatermacher)
DarĂŒber hinaus lassen sich gewisse Parallelen zwischen dem in Korrektur geschil-
derten architektonischen und dem als Schilderung vorliegenden Schreibprojekt
feststellen, denn beide â das Kegelbauwerk selbst und das Buch ĂŒber das Kegel-
bauwerk â definieren sich ganz wesentlich ĂŒber die Differenz zu Akteuren und
Institutionen der jeweiligen Felder. Roithamers Anspruch, âetwas [zu] bauen, das
noch kein Mensch gebaut hatâ (TBW 4, 238), nĂ€mlich âsein Kegelwerk, welches
bis dahin niemals hatte ausgefĂŒhrt werden könnenâ (TBW 4, 42), richtet sich
ausdrĂŒcklich gegen das Misstrauen und den Unverstand der âsogenannten Fach-
leuteâ (TBW 4, 43), gegen die Ablehnung des âFachgesindel[s]â (TBW 4, 186).
Zudem verschafft die Konstruktion des Kegels als ânie dagewesenes Bauwerkâ 141
seinem Architekten gerade deshalb die âhöchste Befriedigungâ (TBW 4, 238),
weil er mit dieser doppelt superlativischen âhöchsten Höchstleistung[ ]â (TBW
4, 35) den common sense in einem Land ĂŒberschritten habe, das, so Roithamer,
âalle Anzeichen von GeistesschwĂ€cheâ (TBW 4, 27) zeige. Nicht etwa das Urteil
der âBaufachleute[Â ]â bzw. âder sogenannten Architektenweltâ (TBW 4, 43)
bestĂ€tigt das Gelingen des Projekts, vielmehr die feste Ăberzeugung Roithamers,
den Kegel âganz gegen das Bauen der anderen, ganz gegen die Vorschriften und
auch Vorstellungen der anderenâ (TBW 4, 99) errichtet zu haben: Roithamers
Kegel ist, so Roland Innerhofer, ein âZeichen der SouverĂ€nitĂ€tâ: âDurch die
Errichtung des Bauwerks, fĂŒr das es in der Tradition kein Beispiel gibt, das sich
an keine konventionellen Vorgaben hÀlt, will der Erbauer seine eigene Identi-
tÀt erlangen: nicht durch Erinnerung an die Vergangenheit, sondern durch die
Antizipation der Zukunft.â 142
Roithamers âtotale RĂŒcksichtslosigkeitâ gegenĂŒber Ă€sthetischen Konventionen
und sozialen Erwartungen, die der ErzÀhler und Nachlassbearbeiter beharr-
lich hervorhebt, geht, wie David Roberts gezeigt hat, mit der âtotale[n] Beja-
hung der eigenen Entwicklungâ einher.143 Nur er selbst, keine kritische Instanz
von auĂen, bestimmt ĂŒber das GlĂŒcken seiner Studie wie ĂŒber den Wert seiner
141 David Roberts: Korrektur der Korrektur? Zu Thomas Bernhards Lebenskunstwerk Korrek-
tur. In: Bernhard. AnnĂ€herungen. Hg. v. Manfred Jurgensen. Bern, MĂŒnchen: Francke 1981,
S. 199 â 213, hier S. 212; Hahn: Geschichte und Epigonen (Anm. 37), S. 425, schreibt Roithamer
das Konzept eines âoriginalitĂ€tsĂ€sthetischen Innovationismusâ zu.
142 Roland Innerhofer: Der Kegel als Held. Zu Thomas Bernhards Korrektur. In: Ein Zoll Dankfest.
Texte fĂŒr die Germanistik. Konstanze Fliedl zum 60. Geburtstag. Hg. v. Susanne Hochreiter
u. a. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 193 â 200, hier S. 193 f.; vgl. ebd., S. 194 f.:
âDer Roithamerâsche Kegel ist eine gebaute Utopie, die sich aus der radikalen Opposition zu
aller Ăberlieferung definiert.â
143 Roberts: Korrektur der Korrektur? (Anm. 141), S. 204.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard386
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471