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sowie den skandinavischen Nobelpreisträgern Knut Hamsun und Frans Eemil
Sillanpää zu stellen.120 Im Demokratischen Volksblatt war von derlei Anmaßung
indes noch wenig zu bemerken.
Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“
Gerhard Amanshauser habe ihm, so Hermann Hakel in seinen Lebenserinnerun-
gen, Mitte der 1950er Jahre von einem „jungen, absonderlichen Autor“ namens
Thomas Bernhard erzählt und ihm einige von dessen Gedichten zur Prüfung
vorgelegt: „Nun, die Verse waren schlecht, weinheberisch, sentimentale Natur-
duselei“, ja „banale Zeitschriften- oder Sonntagsbeilage-Gedichte für die deutsche
Familie“. Wenige Jahre später jedoch sei Bernhards literarische Formensprache
plötzlich „modern geworden“ und Carl Zuckmayer habe öffentlich „erklärt, daß
dieser junge Autor die größte lyrische Hoffnung sei“.121 Zwischen den beiden
Lektüren Hakels liegt ein entscheidender Schritt in Bernhards schriftstellerischer
Entwicklung. Ton und Sujet seines lyrischen Schaffens haben sich auf dem Weg
von den ersten Veröffentlichungen im Münchner Merkur im April und Juni 1952
über gelegentliche Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien bis hin
zu den drei in renommierten Verlagen gedruckten Bänden Auf der Erde und in der
Hölle (1957), In hora mortis (1958) und Unter dem Eisen des Mondes (1958) deut-
lich gewandelt.122 Bereits in einer 1955 in den Salzburger Nachrichten gedruckten
Kritik hatte sich Hansjörg Graf darüber erfreut gezeigt, dass Bernhard seine epi-
gonalen „Jugendsünden“ allmählich zurückgelassen habe, ja dass sich, bei aller
gebotenen Vorsicht, der „Durchbruch seiner dichterischen Begabung“ abzeichne.123
120 Vgl. weiter TBW 22.1, 567: „Die Bücher, die ihr schreibt, sind langweilig, sie sind aus Papier,
eure Sprache ist erlogen […], sie brüskiert die Sprache Hölderlins, Whitmans, Brechts […].
Es ist, als hättet ihr gar nichts erlebt, als lebtet ihr nur aus den Büchern der alten Vetter, als
stopftet ihr euch zum Frühstück, Mittagessen und Nachtmahl mit den schwindsüchtigen
Rilkes und seiner bleichen Verwandtschaft den Magen voll“. Mit großer Geste entwickelt
Bernhard seine Philippika, die
– wie viele literarische Scheltreden
– damit operiert, Autoren
der literarischen Tradition gegeneinander auszuspielen. Hier funktioniert dies v. a. über die
Frage des sozialen Status und Habitus der Schriftsteller. Während er Hamsun, Whitman oder
den kurz zuvor verstorbenen Gottfried Benn für sich und seine Konzeption von Autorschaft
zu vereinnahmen sucht, ist es der in höchsten Kreisen verkehrende und von reichen Gönne-
rinnen unterstützte Rilke, den er als Negativbeispiel anführt. Die Funktion der literarischen
Polemik besteht hier ganz klassisch vor allem auch in Traditions- und Kanonbildung – und
in deren Gegenteil.
121 Hakel: Dürre Äste. Welkes Gras (Anm. 1), S. 334 f.
122 Zur Entwicklung von Bernhards Lyrik vgl. Axel Diller: Das vergessene Werk. Thomas Bernhards
Lyrik. In: Text + Kritik (42016), H. 43, S. 66 – 91.
123 H.[ansjörg] G.[raf]: Skepsis und Erwartung. In: Salzburger Nachrichten, 27. 7. 1955.
Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471