Seite - 228 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz
Im Zentrum seiner Ambitionen als Rezensent stand bald auch eine Neukonzep-
tion des Genres ‚Kritik‘. Diese hob sich ganz bewusst von den etablierten Verfah-
ren der Beschreibung und Bewertung von Literatur ab. Sie stellte im Gegenzug
die Idee einer „erzählte[n] Lektüre“ in den Mittelpunkt, die auch für seine fik-
tionalen Texte – etwa für den Kurzen Brief zum langen Abschied (1972), dessen
Protagonist Kellers Grünen Heinrich und Fitzgeralds Der große Gatsby liest –
eine wichtige Rolle spielt;37 „daß einer von einem Buch erzählt, was er damit
erlebt hat“,38 diese Vorstellung hat dem Autor im Laufe der Jahre immer wieder
als Ideal und als Leitlinie seines Rezensierens gedient. Er verfolgte dabei, wie er
1972 in der Vorbemerkung zum Essayband Ich bin ein Bewohner des Elfenbein-
turms festhält, den Anspruch, über Bücher
– aber auch über Filme oder LPs
– zu
schreiben, „ohne dem Leser mit dem üblichen Rezensions- und Analyseschema
jede eigene Erkenntnismöglichkeit gleich mit dem ersten Satz wegzunehmen“.39
Die bereits in Handkes „Bücherecke“-Sendung vom 21. Dezember 1964 arti-
kulierten Vorbehalte gegenüber einer konventionellen Literaturkritik, die durch
die Automatisierung ihrer Ausdruckmittel zur unproduktiven und „gedanken-
los[en]“ Routine verkommen sei,40 versuchte der junge Autor nun für die Bestim-
mung eines alternativen Verfahrens der Kritik zu mobilisieren. „Es sind auch
andere Sätze möglich“, hatte Handke Ende 1964 als Fazit seiner Ausführungen
über die „Bewertungsworte“ der Kritiker vielsagend angekündigt.41 Der eingangs
zitierte Brief an Unseld vom 29. August 1966 zeigt, dass er es auch in Zukunft
nicht bei einem Lamento über den sprachlichen und intellektuellen Zustand der
zeitgenössischen Literaturkritik bewenden lassen wollte. Der 1967 in den manu-
skripten publizierte Lektürebericht Als ich „Verstörung“ von Thomas Bernhard
las, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird, ist ein prägnantes Beispiel
für Handkes bewusst betriebene Distinktion von den Gattungskonventionen
der Literaturkritik – ein Beispiel zudem, das Handkes anfängliche Faszination,
ja „Hochschätzung“ 42 für Bernhards Bücher, die sich Anfang der 1970er Jahre
37 Bartmann: Suche nach Zusammenhang (Anm. 24), S. 121.
38 Volker Hage/Mathias Schreiber: „Gelassen wär’ ich gern“. Der Schriftsteller Peter Handke über
sein neues Werk, über Sprache, Politik und Erotik. In: Der Spiegel, Nr.
49, 5. 12. 1994, S.
170 – 176,
hier S. 176.
39 Peter Handke: Vorbemerkung. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 6),
S. 7 – 8, hier S. 7. Vgl. dazu Clemens Özelt: Klangräume bei Peter Handke. Versuch einer poly-
perspektivischen Motivforschung. Wien: Braumüller 2012, S. 60 f.
40 Peter Handke: „Bücherecke“ vom 21. 12. 1964. In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 3), S. 189 – 197,
hier S. 189.
41 Ebd., S. 190.
42 Hans Höller: Peter Handke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2007, S. 36.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik228
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471