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gänge der Selektion und Unterdrückung möglicher Äußerungen.3 Zensur wird
unter diesen Vorzeichen nicht als autoritärer Eingriff betrachtet, sondern als in
jeder Gesellschaft notwendigerweise vorhandenes, ja sogar produktives Phäno-
men. Konsequenterweise tritt die Selbstzensur innerhalb des New Censorship in
den Mittelpunkt des Interesses. Zensur ist aus dieser Perspektive jedem Sprech-
akt inhärent, sie ist immer beteiligt, wenn Rede oder Text produziert wird. Sprech-
akte setzen die Wahl zwischen Alternativen voraus, sie beruhen folglich auf
Beschränkungen und Ausschließungen.4 Zensur wirkt auch ohne Akteure oder
Institutionen, eine Beobachtung, die Judith Butler zuspitzt, indem sie die Zen-
surhoheit von Personen (insbesondere von Zensoren) auf die Sprache bzw. den
Diskurs, die „domain of speakability“, verlagert, die erst die Formierung des
Subjekts ermöglicht. Deshalb schlägt sie auch vor, statt von Zensur mit den Psy-
choanalytikern Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis von foreclosure (Aus-
schließung) zu sprechen.5 Auch Michael Holquist vertritt in einer Sammlung
von Beiträgen zum Thema einen breiten, den gegenwärtigen pluralistischen
Gesellschaften angemessenen Zensurbegriff. Zensur ist ein ‚Kontext‘ des Schrei-
bens, der nicht nur Unterdrückung hervorruft, sondern in dynamischer Bezie-
hung zu den von ihr Betroffenen steht und positiv-produktive Wirkung ausüben
kann. Zensur erscheint hier, analog zu Kritik, als eine spezielle Form der Lek-
türe, die zensorisch wirken, zugleich aber hilfreich bei der Textgenese sein kann.6
Geradezu eine Komplizenschaft zwischen Zensur und Transgression von Nor-
men nimmt Fredric Jameson an, wenn er erläutert, dass das (Auf-)Begehren der
Unterdrückung bedarf, um überhaupt spürbar zu werden. Auch das (unbewuss-
te) kollektive gesellschaftliche Begehren setzt Normen und Gesetze voraus, die
es andererseits wiederum permanent bestätigt; so affirmiert zum Beispiel Blas-
phemie die Heiligkeit.7
Auf ähnliche Weise betrachtet Pierre Bourdieu Zensur, nämlich als einen
Effekt des literarischen Feldes. Eine bestimmte Position im Feld bringt sowohl
positive Vorgaben wie auch Ausschließungen mit sich.
3 Zum je nach Perspektive unterschiedlichen Umfang und Inhalt des Zensurbegriffs siehe auch
Wilhelm Haefs: Art. „Zensur“. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte –
Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2015, S. 558–567, hier S. 558–560.
4 Vgl. Robert C. Post (Hg.): Censorship and Silencing. Practices of Cultural Regulation. Los
Angeles: The Getty Research Institute 1998.
5 Judith Butler: Ruled Out. Vocabularies of the Censor. In: Robert C.
Post (Hg.): Censorship and
Silencing: Practices of Cultural Regulation. Los Angeles: The Getty Research Institute 1998,
S. 247–259, hier S. 249 u. 253.
6 Michael Holquist: Corrupt Originals: The Paradox of Censorship. In: Publications of the Modern
Language Association of America 109, No. 1, January 1994, S. 14–25.
7 Fredric Jameson: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 60.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
16 1. Einleitung
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510