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gebildet, sondern auch durch viele individuelle Entscheidungen (zum Beispiel
in Verlagen oder Museen oder durch Einzelpersonen im Unterrichtswesen) und
ist nie so verbindlich und mit autoritären Maßnahmen wie dem Verbot eines
Buches verbunden.
Von dem diskursanalytischen Zensurbegriff ergeben sich Übergänge zur psy-
choanalytischen Auffassung der Zensur. In der Psychoanalyse bezeichnet Zen-
sur eine seelische Instanz, die darüber entscheidet, ob unbewusste, von Trieben
und Libido gesteuerte Wünsche an die Oberfläche des Bewusstseins treten dür-
fen, und im negativen Fall für Veränderung und/oder Verschlüsselung der ver-
botenen Inhalte sorgt. Allerdings wirkt Zensurdruck – über den Weg der Selbst-
zensur – auch hier produktiv und stilbildend, wie Michael
G. Levine am Beispiel
Heinrich Heines betont: „[…] the anticipated intervention of censorship not
only exerted an inhibitory pressure on his writing, it also exercised a direct for-
mative influence on the style of his texts.“21 Wenn Zensur mit Stottern vergli-
chen wird, mit einer Art permanent wirkender Selbstunterbrechung, ist Repres-
sion ein nicht hintergehbarer Faktor allen Schreibens und Sprechens.
Auch die literarische Zensur kann als Unterdrückung unliebsamer ,Wahrhei-
ten‘ interpretiert werden, die ein gesellschaftliches oder religiöses System in
Gefahr bringen. Eine spezielle Form von stilistischer Zensur ist die bereits erwähn-
te Technik der Euphemisierung, die Ersetzung anstößiger oder tabubesetzter
(zum Beispiel für den sakralen Bereich reservierter) Wörter durch Umschrei-
bungen. Zahlreiche anschauliche Strategien der Vermeidung von direkten Benen-
nungen enthält der Text von Hägelin mit Empfehlungen zur Zensur von Thea-
terstücken.22 Zensur bewirkt also unter Umständen einen Kompromiss;
insbesondere drängen sich psychoanalytische Überlegungen bei der Selbstzen-
sur durch den Autor auf. Aus der Sicht der Machthaber und Zensur Ausüben-
den ist der Idealzustand die totale Selbstzensur, die automatisierte Übereinstim-
mung von schreibendem Individuum und Staat bzw. Gesellschaft. Das Aufgehen
in einer höheren Ordnung, im Willen des Staates und seines Lenkers, besonders
wenn er, wie es in Österreich der Kaiser tat, als Vaterfigur und Über-Ich auftrat,
kann geradezu als Glück empfunden werden. Durch die Zustimmung des Zen-
sors sichert sich der Schreibende das höhere Glück des Gehorsams gegenüber
der patriarchalischen Ordnung.23 Die staatlichen Institutionen ahmen hier das
alte Muster der Kirche nach, die die Gläubigen – mit der Vaterfigur des Papstes
21 Michael G. Levine: Writing Through Repression. Literature, Censorship, Psychoanalysis. Bal-
timore, London: The Johns Hopkins University Press 1994, S. 1.
22 Vgl. den Anhang, S. 450–454.
23 Vgl. Waltraud Heindl: Der „Mitautor“. Überlegungen zur literarischen Zensur und staatsbür-
gerlichen Mentalität im habsburgischen Biedermeier und Vormärz. In: Péter Hanák/Waltraud
Heindl/Stefan Malfèr/Éva Somogyi (Hg.): Kultur und Politik in Österreich und Ungarn. Wien,
Köln, Weimar: Böhlau 1994, S. 38–60, hier S. 40–41.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
20 1. Einleitung
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510