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ist die Toleranz bei populären Schriften weit geringer. Durch die – an sich stren-
gen – Karlsbader Beschlüsse von 1819 wurden alle Werke über 20 Bogen (d. i.
320
Seiten) Umfang von der Vorzensur befreit. In Österreich wurden bereits im
18. und verstärkt in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts Sondergenehmigun-
gen (sogenannte ‚Scheden‘) zum Bezug verbotener Bücher an sozial arrivierte
Leser (Adel, Gelehrte, Politiker) ausgegeben. Diese Unterscheidung der gebil-
deten Elite und der ‚Masse‘ bestätigt den Klassencharakter der Zensur: Die pri-
vilegierten herrschenden Schichten sind auch für bedenkliche Lektüren quali-
fiziert, weil sie ohnehin das gültige Normensystem internalisiert haben und man
von ihnen annimmt, dass sie – zumindest in ihrer überwiegenden Mehrheit –
nicht an einem radikalen Wandel der Gesellschaft interessiert sind, die ungebil-
dete und ärmere Bevölkerung muss dagegen zur Befolgung der Normen erst
erzogen bzw. gezwungen werden.
Pierre Bourdieu wurde oben schon als Vertreter des New Censorship erwähnt.
Mit seiner Feldtheorie liefert er aber auch ein Modell der sozio-historischen
Entwicklung, das insbesondere auf die Autonomisierung der einzelnen Felder
abhebt, darunter auch der Literatur, die sich von politischer und religiös-mora-
lischer Indienstnahme (dem Feld der Macht) wie auch von kommerziellen
Ansprüchen befreit. In der Habsburgermonarchie kann von Autonomie der Lite-
ratur angesichts kirchlicher bzw. staatlicher Kontrolle von vorne herein keine
Rede sein. Auch die einzelnen gesellschaftlichen Felder (Religion, Ökonomie,
Recht …) grenzen sich in Bourdieus Modell der gesellschaftlichen Entwicklung
voneinander durch zunehmende Autonomisierung ab. Charakteristisch ist in
dieser Hinsicht, dass die österreichische Zensur kaum einen Unterschied zwi-
schen Belletristik und wissenschaftlicher Sachliteratur machte, die ja spätestens
im 19. Jahrhundert eigenen Feldern hätte zugeordnet werden müssen. Schöne
Literatur stand zwar unter dem generellen Verdacht, unnütz zu sein; unter Anwen-
dung des alten, extensiven Literaturbegriffs, der alles Geschriebene bzw. Gedruck-
te umfasst, wurden wissenschaftliche Untersuchungen und poetische Erfindun-
gen aber gleichermaßen als potentiell schädlich erachtet, weil man dem
Lesepublikum nicht zutraute, zwischen Tatsachen und Erfindungen zu unter-
scheiden. Auch die Wissenschaft erfüllte nur dienende Funktion, sie blieb wie
die Literatur von dem Feld der Macht bestimmt. Wenn Kaiser Franz noch 1823
in einem Vortrag von sich gab, „ich brauche keine Gelehrten, sondern brave
rechtschaffene Bürger“,33 so bringt das die Unterordnung aller gesellschaftlichen
33 Zitiert in Michael Wögerbauer: Die Zensur ist keine Wissenschaft, sondern bloß eine Polizei-
anstalt. Zum Verhältnis von Sozialsystem Literatur und staatlicher Intervention 1780–1820 am
Beispiel Prag. In: Alexander Ritter (Hg.): Charles Sealsfield. Lehrjahre eines Romanciers 1808–
1829. Vom spätjosefinischen Prag ins demokratische Amerika. Wien: Praesens 2007, S. 105–
124, hier S. 106. 231.2.
Der historisch-soziologische Zensurbegriff
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510