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den. Zensur wird weitgehend oder gänzlich durch Erziehung und Selbstzensur
ersetzt.
Nachzuvollziehen ist Selbstzensur zuweilen in historisch-kritischen Ausga-
ben, die verworfene oder umgeschriebene Passagen eines Textes nachweisen. Im
Einzelfall ist es allerdings meist schwierig, zwischen einer Änderung unter dem
Druck herrschender Normen und der Umgestaltung einer Textstelle aus ande-
ren, zum Beispiel ästhetischen Gründen zu unterscheiden. Wie auch immer,
Selbstzensur macht externe Zensur überflüssig, letztere wird von erfolgreicher
Sozialisation abgelöst. Die Anwendung physischer Gewalt setzt persönliche
Interaktion voraus, die in größeren und komplexer organisierten Gesellschaften
immer unwahrscheinlicher und schwieriger wird, allein schon wegen der nicht
ohne Weiteres gegebenen Erreichbarkeit der Adressaten. Die Ausübung von
Macht verschiebt sich daher von physischer zu symbolischer Gewalt. In ausdif-
ferenzierten modernen Gesellschaften ist Macht depersonalisiert, auf Rollen und
Institutionen verlagert, letztlich ein Kommunikationsmedium. Das Individuum
ist zunehmend gesellschaftlich determiniert, empfindet sich subjektiv aber als
zunehmend frei. Der Rückgriff auf explizite Zensurmaßnahmen erscheint aus
dieser Perspektive als Rückschritt, als Symptom einer Machtkrise. „Wo ‚Macht‘
funktioniert, erübrigt sich Zensur“, formuliert Armin Biermann lakonisch.53
Ein Blick auf die Geschichte der Zensur erhärtet den Eindruck, dass Zensur
mit Machtkrisen einhergeht. Sie taucht stets auf, wenn alte Gewissheiten und
Normen infrage gestellt werden. In Europa ist das zunächst in der Zeit der Renais-
sance und Reformation bzw. Gegenreformation der Fall. Im deutschsprachigen
Raum sind erste Zensurvorgänge ab ca. 1475 dokumentiert. Durch das Edikt
von Worms wurden 1521 die Schriften Luthers und alle anderen Werke, die sich
gegen die herrschende Lehre und die Person des Papstes wandten, verboten.
1564 wurde vom Vatikan erstmals ein umfassender Index librorum prohibitorum
ausgegeben, der bis 1966 in Kraft blieb und laufend revidiert wurde. Das neue
Medium, das gedruckte Buch, erweiterte die Kommunikationskreise auf drasti-
sche Weise, es erreichte zunehmend auch Nichtgelehrte und rief damit die Zen-
sur auf den Plan. Die um sich greifende schriftliche bzw. gedruckte Kommuni-
kation löste die alten unverrückbaren Wahrheiten auf und eröffnete subjektiven
und partikulären Meinungen breiten Raum. Auch Fiktionen, deviante Erfindun-
gen der schönen Literatur, gewannen an Boden und differenzierten sich als
eigenständiger Sektor der Buchproduktion aus. Der Übergang von der intensi-
ven Lektüre einiger weniger kanonischer Werke zum extensiven Viellesen impli-
ziert die Pluralisierung der ‚Wahrheit‘.54
53 Biermann: ‚Gefährliche Literatur‘, S. 11.
54 Vgl. dazu Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische
Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre. In: Archiv für Geschichte des Buch-
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
30 1. Einleitung
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510