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trativen Hierarchie vorzurücken. Ein solcher Langzeitzensor war zum Beispiel
der Abbé Ignaz Pöhm (1793–1827), Weltpriester und Doktor der Theologie, der
sich vom einfachen Bibliotheksdiener in der Wiener Hofbibliothek zum Kustos
ebendort und zum k. k. Rat hochdiente.
Ein anderer Langzeitzensor, der sich von dem Zensorenamt vermutlich in
erster Linie nützliche Kontakte versprach, war der kaiserliche Hofsekretär und
vielseitige Autor, Herausgeber und Übersetzer Joseph Friedrich Freiherr von
Retzer (1782–1824),27 der speziell für ausländische Literatur eingesetzt wurde.
Zugleich belegt er den Umstand, dass das Zensorenamt an sich unbeliebt war.
In einigen von ihm zensierten Werken fanden sich Zettel, die bewiesen, dass er
die Bücher nicht selbst gelesen, sondern an den mit ihm befreundeten Joseph
Richter, neben vielem anderen Verfasser der populären Eipeldauerbriefe, weiter-
gereicht hatte. Das Motiv für diese Maßnahme war, laut Retzer, dem in Schwie-
rigkeiten geratenen Autor finanziell zu helfen. In seiner Rechtfertigung wies
Retzer darauf hin, dass das Weiterreichen von zu zensierenden Büchern an Mit-
arbeiter eine lange Tradition habe: Er nennt den Abbé Rosalino, der als junger
Mann für Hägelin gelesen haben soll; auch Blumauer habe einen Helfer beschäf-
tigt; er selbst, Retzer, habe früher für den Hofrat von Birkenstock und Locella
hunderte Bücher durchgesehen. Sogar van Swieten senior habe fremde Hilfe
herangezogen, und zwar seine Söhne, seine Frau, Graf Lanthieri und Raniero di
Calzabigi.
Es war nicht das erste Mal, dass Retzer einen Mitarbeiter beschäftigte. Zuvor
hatte er mit dem Feldkriegskanzlisten Mayer zusammengearbeitet. Dieser war
ihm von dem Prinzen von Württemberg, dem Schwager des Kaisers, wärmstens
empfohlen worden. Der Tipp war nicht ganz selbstlos: Auf diese Weise erhielt
der Prinz Zugang zu den in die Zensur geratenen, zum Teil anrüchigen Neuer-
scheinungen. Die Nähe zum verbotenen Teil des Buchmarkts scheint gesell-
schaftlich höhergestellte Zensoren wie Retzer auch bei Damen attraktiv gemacht
zu haben. So wurde Retzer von der Gräfin Wolkenstein 1811 aufgefordert, ihr
das Zensurexemplar des neuesten Romans von Pigault-Lebrun, der im Ruf stand,
schlüpfrig zu sein, zu leihen.28
27 Laut Olechowski: Die Entwicklung des Preßrechts, S. 130, mit Berufung auf Julius Marx wur-
de Retzer 1819 suspendiert, weil er einem von ihm selbst verfassten Werk das ,admittitur‘ ver-
liehen hatte, diese Maßnahme scheint aber nur vorübergehend gewirkt zu haben. Siehe auch
Thomas Olechowski: Die österreichische Zensur im Vormärz. In: Gabriele B. Clemens (Hg.):
Zensur im Vormärz. Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa. Ostfildern: Jan Thor-
becke Verlag 2013, S. 139–152, hier S. 143.
28 Vgl. Schembor: Meinungsbeeinflussung durch Zensur, S. 172–175, aufgrund von Akten der
Polizeihofstelle.
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100 3. Die Zensur als Instrument der Repression: Die Ära Napoleons und der Vormärz (1792–1848)
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510