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Autor Jean Paul aufgelöst. Zunächst betrachten wir eine kleine Auswahl von
Passagen mit für ihn typischen Anstößigkeiten aus Die unsichtbare Loge (1793),
deren zweite, verbesserte Auflage von 1822 in Österreich verboten wurde.
In diesem frühen Roman Jean Pauls wird der jugendliche Held Gustav, der
Sohn der Tochter des Obristforstmeisterehepaars Knör und des Rittmeisters von
Falkenberg, bis zu seinem zehnten Lebensjahr nach dem System der Herrnhu-
ter, das heißt in einer unterirdischen Höhle, abgeschirmt von den Versuchungen
der Welt, aufgezogen. Als Jugendlicher übersiedelt Gustav in die kleine Resi-
denzstadt Scheerau und wird dort in einer Kadettenschule weltlich erzogen. Er
verliebt sich in die junge Beata, wird aber von der Regentin Bouse verführt. Die-
ser Verlust der Unschuld gefährdet die Beziehung zu Beata, im idyllischen Kur-
bad Lilienthal wird sie aber gekittet. Der Roman bricht ab, als Gustav im Gefäng-
nis sitzt, weil er verdächtigt wird, wie sein Mentor Ottomar Mitglied einer
geheimen Gesellschaft zu sein.
Die Darstellung der Herrnhuter fällt, wie nicht anders zu erwarten, satirisch
aus. Ein zum Zweck der Betrachtung Gustavs zusammengekommener „Faszikel“
von Gläubigen verhält sich herdenmäßig, und der Erzähler wundert sich über
die Kompanie dieser „auf zwei Füße gestellten Schafe“.188 Herrnhuter neigen
nach Jean Paul zur Selbstbeschimpfung, aber nur, um die anderen noch niedri-
ger erscheinen zu lassen.189 Auf nur wenig Verständnis bei Zensoren kann auch
Jean Pauls Vorschlag gestoßen sein, die Heiligen und Marienstatuen in Kirchen
zwecks Steigerung der Attraktivität der Gottesdienste nach der jeweils neuesten
Mode zu kleiden. Dann wüsste man wenigstens, „weswegen man in die Kirche
ginge und was sie gerade in Paris oder Versailles anhaben“.190 In dieselbe Rich-
tung gehen seine Vorschläge, bequemere Sitz- bzw. Schlafmöbel in den Kirchen
zu installieren, da besonders die Aristokratie in diesem Bereich einen hohen
Standard gewohnt sei.
Für solche Leute von Ton müssen daher ordentliche Kirchenbetten in den Logen auf-
geschlagen werden, damit es geht; so wie auch Spieltische, Eßtische, Ottomanen,
Freundinnen u. dergl. in einer Hofkirche so unentbehrliche Dinge sind, daß sie bes-
ser an jedem andern Orte mangeln könnten als da.191
Der uneheliche Sohn des Regenten, Ottomar, wird lebendig begraben, er hat,
wie man heute sagen würde, ein Nahtoderlebnis. Dabei macht er die Erfahrung,
188 Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung von Jean Paul. Zwei Teile. Zweite, verbesserte
Auflage. Berlin: G. Reimer 1822, Bd. 1, S. 67.
189 Ebd., Bd. 1, S. 179–180.
190 Ebd., Bd. 2, S. 209.
191 Ebd., Bd. 2, S. 310.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
318 6. Fallstudien
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Titel
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Autor
- Norbert Bachleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 532
- Schlagwörter
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510