Seite - 91 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

91 März 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 18. WA 1872, Nr. 60, 13. März Feuilleton. Musik. (Philharmonisches Concert.) Als seltenes und seltsames Fest- und Extrastück bekamen wir im Concert der Phil- harmoniker die Sinfonie fantastique von Berlioz zu hören – das erste Werk, womit 1829 der Componist auftrat. Dem heftigen und leidenschaftlichen Widerspruch seines ewigen Contradictors Fétis, welchen er sofort damit weckte, trat damals Schumann in jener glänzenden Besprechung entgegen, welche den jungen Franzo- sen als ein am musikalischen Horizont neu aufgehendes Glanzgestirn freudig be- grüßte. Schumann fühlte sehr richtig, hier verrathe sich eine geniale Begabung ganz außerordentlicher Art, hier seien Züge und Dinge di prima fattura, wie die Italiener sagen, Sachen von der Quelle weg, oder vielmehr selbst wie eine Quelle mit gewaltiger Kraft durch den harten Boden brechend und in reichster Fülle strömend. Der Componist hatte das Werk so zu sagen mit seinem Herzblut ge- schrieben, die überschwängliche Gewaltsamkeit des Ganzen hatte etwas treuher- zig Urwüchsiges, gewissermaßen etwas Naives. „Wenn sich Berlioz noch gewaltsam wie ein rasender Fakir geberdet und Men- schen am Altare schlachtet, so meint er es eben so ehrlich wie Haydn, wenn er mit demüthigem Blick eine Kirschblüthe auf den Altar niederlegt“, rief Schumann ein- mal der gegen Berlioz jetzt auch schon in Deutschland laut werdenden Partei zu. Dabei hätte die Partei allerdings erwiedern können, daß es doch nicht so ganz alleseins sei, ob man zum Opfer Menschenköpfe oder Kirschenblüthen abschnei- det, und daß das Menschenabschlachten dadurch nicht eben empfehlenswerther wird, wenn es in „guter Absicht“ geschieht. Die sittlich und ästhetisch mehr als bedenkliche Grundidee dieser „phantastischen Symphonie“, die Verkehrtheit, eine große Symphonie als Illustration eines vorher entworfenen weitläufigen Pro- gramms zu schreiben – eines Programms, das uns mit größter Naivetät gleich in seinen ersten Worten die für das Verständniß des Werkes allerdings unentbehrli- che Andeutung giebt: „Durch eine sonderbare Ideenverbindung (!) stelle sich dem jungen Künstler das Bild der Geliebten immer zugleich mit einer Melodie vor, welche einen gewissen edlen und schüchternen (noble et timide) Charakter habe“, das Wüste, Rohe, ja stellenweise Absurde, das hart neben Schönheiten allerersten Ranges steht – das alles übersah Schumann keineswegs, aber er erblickte das alles in sehr mildem Licht, denn er meinte eben, dieser Sturm und Drang werde sich später zu reiner Kunstschönheit beruhigen und klären; diese erste vulcanische Eruption eines jungen genialen Geistes werde gleich andern vulcanischen Erupti- onen ihrem Aschenregen und ihren Lavaströmen nur deßwegen freie Bahn ge- macht haben, damit späterhin auf eben dieser Asche und Lava der köstlichste Glutwein gedeihe. Aber die weitere Künstlerlaufbahn Berlioz’ zeigte bald genug, daß er in diesem ersten Symphoniewerke auch so ziemlich schon sein bestes gege- ben und höchstens noch die nächste Symphonie, „Harold en Italie“, an frischer