Seite - 286 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

286 Oktober 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 72. WZ 1872, Nr. 241, 19. Oktober Z. 24–54, 58–81, 203–228 aufgenommen in: „Musikalische Wasserpest.“, Bunte Blätter  II, S.  5–10 Feuilleton. Hofoperntheater. Mozarts „Cosi fan tutte“. Von A. W. Ambros. Es sollte mir leid thun, wenn der Leser vor der Ueberschrift erschräcke und glau- ben wollte, daß ich ihm etwa aus Anlaß der Wiederaufführung der lange zurück- gelegt gewesenen Mozart’schen Composition im k. k. Hofoperntheater zumuthe, eine Abhandlung über ein Werk zu lesen, von dem sozusagen jede Note bereits kritisch beleuchtet worden ist. Mit dem, was Otto Jahn im vierten Bande seiner Mozart-Biographie (erste Ausgabe) über „Cosi fan tutte“ geschrieben, sind wohl die Acten ein für alle Mal geschlossen, weder der Apologet, noch der Ankläger haben hier weiter etwas zu thun. Aber auch Oulibicheff, in dessen Mozart-Buche sich neben glänzenden Partien, anziehenden Auseinandersetzungen und neben Kunst- urtheilen, welche den Kern der Sache treffen, leider auch des Halbwahren, Schie- fen, Verfehlten, Unrichtigen und Ungerechten nicht wenig findet, hat „Cosi fan tutte“ zum Gegenstande einer ganzen Abhandlung im brillantesten Feuilletonstyl gemacht und selten sind über Mozart und irgendeines seiner Werke feinere, geist- vollere, treffendere Bemerkungen gemacht worden, als es Oulibicheff hier gelun- gen. Hier erscheint uns der enthusiastische Mozart-Bewunderer und Mozart-Bio- graph wahrhaft liebenswürdig. Kunstwerke von geistiger Tiefe und reiner Schönheit haben indessen das Eigene, daß man mit ihnen gewissermaßen gar nie fertig wird – sie bieten immer neue geistige Ausblicke. Mozarts Opern gehören eben auch dazu – zeigen sie doch mit einer einzigen Ausnahme, nämlich mit Ausnahme des „Titus“, alle vorwärts; eine jede davon ist der Ausgangspunkt folgender, von einander divergirender Ent- wicklungen geworden. Sie haben zunächst, wie Goethe sagen würde, „stoffartig“ gewirkt, aber nicht bloß stoffartig, sondern sie haben den folgenden Generationen analoger Werke gleichsam Regel und Gesetz gegeben, sie haben für jedes davon den richtigen Grundton angeschlagen, die Contouren angedeutet, die Farben gemischt. „Don Giovanni“, von seinem Textdichter Da Ponte zur nicht geringen Verwunderung für uns Spätere, aber nach dem damaligen conventionellen ästhe- tischen Schachtel- und Fachwerk der Librettisten ganz erklärlicher Weise als dramma giocoso bezeichnet, von Mozart aber nichts weniger denn „jokos“, viel- mehr als Mysterium behandelt, das (gleich „Faust“) Ausblicke in Himmel und Hölle öffnet und dazu in wenigen dramatischen Charakteren das ganze bunte Treiben der Welt malt – „Don Giovanni“ ist der Anfangspunkt der später soge- nannten „romantischen“ Oper – es ist in diesem Sinne äußerst lehrreich, neben das Werk von 1787 ein anderes vom Jahre 1832, nämlich Herolds „Zampa“ verglei- chend zu halten – ich nenne „Zampa“, weil dessen Buch eigene und merkwürdige Analogien zum „Don Giovanni“ bietet und fast einen modern umgefärbten