Seite - 232 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

232 August 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 54. WA 1872, Nr. 181, 8. August „Le educande di Sorrento“ (italienische Oper im Carl-Theater). Wie die Sonne nach und nach die einzelnen Zeichen des Zodiacus, so scheint die italienische Oper nach und nach die einzelnen Theater Wiens durchlaufen zu wol- len. Das Theater an der Wien machte den Anfang, dann folgte das Strampfer- Theater und jetzt hat im Carl-Theater die „italienische Operngesellschaft aus Florenz unter der Leitung der Directoren E.  Meynadier und A.  Somigli“ ihre Vor- stellungen mit einer neuen komischen Oper „Le educande di Sorrento“ eröffnet. Wenn eine italienische Operngesellschaft uns besucht, so bekommen wir in der Regel neben dem modernen Verdi, dem Wagner Italiens, insgemein Opern der classischen Trias Rossini, Bellini, Donizetti zu hören, denn diese Maestri sind für das neue Italien in der That die Opernclassiker. Seit einigen Jahren lesen wir in den Zeitungen von einer neuen Generation rühmlichst unbekannter Maestri – alle zusammen nur ein Epigonengeschlecht der glänzenden Rossini-Zeit, unter dem wir uns vergeblich nach einem Talente von durchgreifender Bedeutung umsehen. Diesmal wurde uns nun Gelegenheit ge- boten diese neueste Richtung und einen für uns neuen Componisten kennen zu lernen, dessen Name allein schon wie eine prächtige Einleitungssymphonie klingt: il Maestro Cavalieri Emilio Usiglio. Dürfen wir ihn schon nach dem ersten und bisher einzigen Werke, das wir von ihm kennen lernten, nach den educande beur- theilen, so müssen wir ihm das Zeugniß geben, daß er Rossini fleißig und mit Liebe studirt hat, und daran hat er wohl gethan, denn gerade die hübschesten und anziehendsten Blätter seiner Partitur tragen den Rossini’schen Familienzug – ja ich wünschte, die ganze Partitur trüge ihn und wir würden aus der feinen Nobles- se der musikalischen Diction Rossini’s nicht immer wieder in Cabaletten und spectaculöse Effectstücke hineingerissen, deren bedenkliche Trivialität gegen jene besseren Partien unangenehm genug absticht. Nicht bloß an Rossini lehnt sich Maestro Usiglio, sondern auch (das versteht sich von selbst) an Verdi und gelegentlich sogar an – Offenbach und an Meyerbeer, dessen berühmtes Rataplan uns aus einem Soldatenchor entgegentönt. Ueberhaupt werden wir fast immerfort in Motiven, Phrasen, Wendungen an Bekanntes, Be- kannteres und Bekanntestes erinnert. Der Maestro wirthschaftet und speculirt gleichsam mit ausgeborgtem Gelde – aber er wirthschaftet verständig und specu- lirt glücklich und macht seinen hübschen Profit; wie viel Percent von letzterem er an seine musikalischen Creditoren wird abgeben müssen, ist freilich eine andere Frage. Die Art, wie die lustige Oper gegeben wird, verdient alles Lob. Das frische, muntere Zusammengreifen in Spiel und Gesang wirkt durchaus erfreulich, die wohlgeübten Darsteller machen nirgends den Anspruch, Kräfte ersten Ranges und erster Bedeutung zu sein, und weil sie ihn nicht machen, macht ihn der Zuhörer seinerseits an sie auch nicht und beide befinden sich dabei sehr wohl. So ist der Don Democrito des Signor Fioravanti eine durchaus treffliche Ge- stalt, voll Komik und voll Lebenswahrheit, – wer hätte ihr Original nicht in Italien