Seite - 275 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

275 Oktober 1872 5 10 15 20 25 30 35 so wenig zu dieser Gattungsart (nämlich Messen) passte, deren größte Stärke sozusagen im fugierten Orgelstil liegt.“ (Fétis, Biographie universelle, Bd.  2, S.  75). 70. AZ-Beilage 1872, Nr. 289, 15. Oktober Z. 4–129 aufgenommen in: „J. R. Zumsteeg, der Balladencomponist.“, Bunte Blätter  II, S.  72–78 J. R. Zumsteeg, der Balladencomponist. Von A. W. Ambros. (Fortsetzung.) Jedenfalls bedeutender als Zelter und Reichardt, und zwar sehr viel bedeutender, ist Zumsteeg. Er erscheint, was von jenen zwei andern in keiner Weise gesagt werden kann, als der unmittelbare Vorläufer Löwe’s, und das Wort des Aristote- les, wenn er sagt: „hätt’ es keinen Phrynis gegeben, so gäbe es auch keinen Timo- theos,“ kann hier eine analoge Anwendung finden. Zumsteeg gleicht der künstle- rischen Individualität Löwe’s bis selbst in Neben dinge und einzelne Züge hinein, so daß man sagen könnte: Löwe sei der moderne Zumsteeg, oder umgekehrt Zumsteeg der Löwe einer früheren Kunstzeit, auf welche etwa von unseren Höhen stolz herabzusehen wir kaum Ursache haben. Sieht man von den älteren Bach und Händel und von den etwas neueren C.  M. v.  Weber und Franz Schubert ab, so haben sich kaum in einer anderen Epoche so viele glänzende Namen deutscher Tonkunst zusammengedrängt! Und in der That ist etwas von der reinen Schön- heit, die uns mit klaren Augen anblickt, von der krystallhellen Durchsichtigkeit, reinen Zeichnung und harmonischen Fär bung, von der ganzen edlen Einfachheit der Tonwerke jener musikalisch-classischen Zeit auch auf Zumsteeg übergegan- gen: die Geschicklichkeit mit scheinbar ganz anspruchlosen Kunstmitteln für das Einzelne den richtigsten Ton zu treffen, mit scheinbar geringem Aufwande von Kräften auch äußerlich eine sehr bedeutende Wirkung zu erzielen. Uebrigens ist es nur mit Beziehung auf den Luxus und die Aufbietung aller ersinnlichen Effect- mittel der neueren und neuesten Musik gesprochen, wenn hier die edle Einfach- heit jener classischen Tonkunst hervorgehoben worden. Man findet bei Mozart, bei Haydn u. s. w. nicht bloß eine vollendet feine, sondern auch eine überaus rei- che Kunstbildung, und oft genug geniale und sogar sehr große Kühnheiten, über welche die gleichzeitige Kritik Zeter schrie und von Ueberladung zu reden fand wo unserm an ganz anderes gewöhnten Ohr alles schlicht und simpel erscheint. Auch die Musik ist den Weg gegangen den die Künste so oft nehmen, nach dem archaisch- strengen, erhabenen, hoheitvollen, zuweilen herben und schroffen Styl kam der ideale, rein schöne Styl, nach diesem der reiche Styl, zu dessen Vertretern man oft mit den Worten jenes griechischen Malers sagen könnte: „Weil du deine Helena nicht schön machen konntest, so hast du sie reich gemacht.“ Der reiche Styl aber pflegt der unmittelbare Vorläu fer der Entartung und des Kunstverfalls zu sein. Für Zumsteeg sorgte sein guter Genius daß er ihn in der Periode des