Seite - 267 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

267 Oktober 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 68. WZ 1872, Nr. 235, 12. Oktober Feuilleton. Hofoperntheater. ά–ς Mit der Rolle der „Philine“ in Ambroise Thomas’ „Mignon“ hat Frl. Marie Schröder die verhängnißvolle Dreizahl ihres Gastdebuts glänzend und glücklich abgeschlossen. Wir dürfen glauben, uns über den künstlerischen Charakter der jungen Sängerin nunmehr nach wiederholtem Hören ein einigermaßen verläßli- ches Urtheil zutrauen zu können. Ueber ihre Gesangsleistung haben wir zu dem, was wir von ihrer Königin Margarethe (in den „Hugenotten“) sagten, kaum noch etwas beizufügen. Frl. Schröders Stimme bewährte sich in jeder Partie als eine entschieden sympathisch-ansprechende – ihre Gesangsbildung als vorzüglich. Die Sängerin hat dabei ganz Recht, wenn sie dieses nicht große, aber wahrhaft wohl- lautende Organ nicht für größer geben will, als die Natur es hat werden lassen – daß sie nirgends forcirt; denn der allenfalls momentan zu erzielende äußere Effect würde auf Kosten der Schönheit des Organs erkauft, ja vielleicht das Organ in seiner Existenz bedrohen. Frl. Schröder ist wesentlich Coloratursängerin – dabei bleibe sie auch! Der Werth dieses Ziergesanges, der (musikalisch, nicht speciell dramatisch genom- men) genau so viel Berechtigung hat wie der declamatorisch-ausdrucksvolle, wird um desto mehr steigen, je seltener er durch die moderne Richtung des Opernstyls allgemach werden dürfte. Gluck hätte seinerzeit den Ziergesang so gut todt ge- macht, wie der hochdramatische Musikstyl Wagners es ihm heute droht, aber nach Gluck kam Mozart. Möge, wenn nach Wagner vielleicht ein Zukunfts-Mozart kommen wird, die Kunst des colorirten Gesanges dann nicht eine verschollene sein, welche man, wie in unseren Tagen die gleichfalls verschollen gewesene Kunst der Glasmalerei, erst wieder neu wird entdecken müssen! Sollte nun Frl. Schröder etwa ausersehen sein, uns den Abgang des Frl. Raba- tinsky zu ersetzen, so darf ich sagen: wir können uns die Laterne des seligen Dio- genes ausborgen und lange suchen, ehe wir etwas Besseres, ja nur etwas Gleiches, wie Frl. Schröder ist, finden werden. Ueber gewisse Einzelnheiten in der Vocalisa- tion, über die Art der Mundstellung u. s. w. wäre vielleicht Manches zu bemerken – das sind Kleinigkeiten, Nebendinge, gleichsam Idiotismen, wie jede, auch die größte Sängerin dergleichen hat, und kommen gegen die entschiedene Vortreff- lichkeit des Ganzen nicht in Betracht. Etwas hat Frl. Schröder vor beinahe allen ihren Coloraturcolleginnen voraus, was ihr hoch anzurechnen ist: während die Damen uns insgemein ihre Coloratur- passagen herausfordernd an den Kopf zu werfen pflegen, daß uns zuweilen die Ohren gellen könnten, singt die Schröder die extravagantesten Bravoursachen mit einer Art liebenswürdig-naiver Unbefangenheit – sie gemahnt an ein Singvögel- chen, das in seinem Busche tirillirt, ohne darum zu fragen, ob denn auch die Vor- übergehenden stehen bleiben und gehörig entzückt sind. Sie ist ganz bei der Sache, das Erste und Wichtigste scheint ihr zu sein, die musikalische Aufgabe so rein und