Seite - 144 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

144 April 1872 5 10 15 20 25 30 35 32. Oesterreichische Wochenschrift für Wissenschaft und Kunst. Neue Folge (1872), Bd.  1, Heft  17, S.  525–530. [Das Heft 17 erschien am 21.  April 1872, vgl. Annonce in: WZ 1872, Nr.  91, 21.  April.] Die päpstliche Sängerschule in Rom, genannt die sixtinische Capelle. Ein musikhistorisches Bild, von Eduard Schelle. Wien, Verlag von J. P. Gotthard. 1872. Die Thätigkeit auf dem Gebiete der Musikgeschichte, die eigentlich erst seit Burney, Forkel und Kiesewetter den Rang einer wirklichen Wissenschaft anspre- chen darf, ist derzeit eine sehr rege. Insbesondere sind die ziemlich häufigen Monographien über einzelne musikhistorische Partien, über einzelne der Musik- geschichte angehörige Persönlichkeiten u. s. w. der Mehrzahl nach äußerst dankenswerth – wie E.  O. Lindners „erste stehende deutsche Oper“, O.  Kades „Matthäus Le Meistre“, Fürstenaus „Hermann Fink“ und dessen Geschichte der Oper in Dresden, Rudhart’s „Geschichte der Oper am Hofe zu München“, Köchels „J. Fux“ und „kaiserliche Hofmusikcapelle in Wien“ u. s. w. Diese Schriften sind für die Abfassung einer allgemeinen „Geschichte der Musik“, die mehr und Besse- res enthalten soll als reine Wiederholungen der aus Burney, Kiesewetter, Winter- feld u. s. w. längst bekannten Dinge (mit Einschluß der Irrthümer) von überaus großem Werth – denn man kann doch wohl keine Summe ziehen, ehe man nicht die einzelnen Posten angesetzt hat. Den oben genannten, und anderen ihnen analogen Schriften reiht sich Schelle’s Buch sehr ehrenvoll an – ja, es öffnet sogar weitere Ausblicke und geht mehr in die Tiefe als sonst Monographien zu thun pflegen – denn die erste Hälfte ist, strenge genommen, eine förmliche Geschichte der christlichen Musik bis zu dem Moment, wo die päpstliche Sängerschule wirklich zur „sixtinischen Capelle“ wird, d.  i. seit Sixtus  IV. (1471 bis 1484), der bekanntlich die weltberühmte Capelle im Vatican durch Baccio Pontelli (Pintelli) erbauen ließ, die, nach seinem Namen genannt, erst von einer Anzahl berühmter florentinischer Maler, später (unter Julius  II. 1503 bis 1512) von dem großen Michel Angelo Buonarotti ausgemalt, als eines der edelsten Kunstheiligthümer der Welt gilt und durch das päpstliche Sän- gercollegium auch das höchste Ideal katholischer Kirchenmusik vermittelt hat – ich sage hat, denn leider muß man dem Herrn Verfasser Recht geben, wenn er in der Vorrede bemerkt, „das Ende der Capelle scheine nicht mehr ferne zu sein, die ohnehin schon das Bild einer Ruine entfaltet.“ Schon legt sich auch über die Wunderwerke Michel Angelo’s trübend ein schwärzlicher Schleier – man sieht in Rom den Untergang achselzuckend voraus und weiß keine Abhülfe. Und so wird vielleicht, ehe zwei Jahrhunderte vergehen, auch die sixtinische Capelle mit ihrer Kunstherrlichkeit eine verschollene Tradition, und die Nachwelt auf bessere oder geringere Copien der Bilder, und auf „historische Concerte“ altitalienischer Kirchenmusik angewiesen sein, die nimmermehr von dem Eindrucke eine Vor- stellung werden geben können, den einst an Ort und Stelle das Zusammenwirken