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die Welt erschließen300 und Orientierung gewinnen. Kindheit wird somit als Lebens-
form gesehen, deren Wirklichkeit historisch verschieden erscheint und die in unter-
schiedlichem Ausmaß von den Kindern selbst gestaltet und konstituiert wird.301 Der
Begriff Kindheit wird als soziale Konstruktion302 verstanden, die gesellschaftlich
bestimmt ist. Janusz Korczak, der eine Vorreiterrolle in der Kinderrechtsdiskussion
einnimmt, betont, dass Kinder über sich selbst besser Bescheid wissen. „Wir sind
wesentlich erfahrener als die Kinder, wir wissen sehr vieles, was Kinder nicht wis-
sen, aber was Kinder denken und fühlen, das wissen sie besser als wir.“303 Er fordert
eine Gleichwertigkeit des Lebens der Erwachsenen und des der Kinder. „Entweder
das Leben der Erwachsenen – am Rande des Lebens der Kinder. Oder das Leben der
Kinder – am Rande des Lebens der Erwachsenen. – Wann wird jener Moment der Frei-
mütigkeit eintreten, da das Leben der Erwachsenen und das der Kinder gleichwertig
nebeneinander stehen.“304
Bezogen auf die Kindheitsforschung muss Kindern das Recht zukommen, an der
Forschung partizipieren zu können, was auch in der UN-Konvention über die Rechte
300 Das beschriebene Kinderbild ist auch die Voraussetzung für die Kindertheologie, vgl.
Bucher, Anton A./Büttner, Gerhard/Freudenberger-Lötz, Petra/Schreiner, Martin (Hg.):
Jahrbuch für Kindertheologie. Stuttgart: Calwer, seit 2002. Generell weisen die Prinzipien
der Kindheitsforschung, wie sie dieser Studie zugrunde liegen, viele Übereinstimmungen
mit den Prinzipien der Kindertheologie auf. „Auch der große Erfolg der Kindertheologie
passt zur religionspädagogischen Wende vom Bezeugen zum Beobachten. Denn auch
der Kindertheologe kann sich zunächst einmal darauf beschränken, Kinder zu eigenen
Artikulationen eines Problems bzw. einer ‚Antwort‘ zu ermutigen, Einstellungen zu
erheben, Gespräche zu moderieren. Wie der Empiriker wendet er sich den religiösen Vor-
stellungen anderer zu. Von seinen eigenen Vorstellungen und Einstellungen kann er dabei
weitgehend absehen. Wenn er sich ‚einbringt‘, dann altersgerecht und mit Rücksicht auf
die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Schüler/innen; seine eigene Sicht,
seine eigene ‚confessio‘, kann darüber zurücktreten. Er beobachtet und unterstützt die
gedanklichen Produktionen der Kinder, die Plausibilität seiner Vorstellungen steht (meist)
nicht direkt infrage.“ (Englert, Rudolf: Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in
19 Lehrstücken. München: Kösel 2012, 40f.).
301 Vgl. Hülst, Dirk (22012): Das wissenschaftliche Verstehen von Kindern. In: Heinzel, Frie-
derike (Hg.): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge
zur kindlichen Perspektive. Weinheim-Basel: Beltz Juventa, 52–77, 52f.
302 Vgl. Qvortrup, Jens (Hg.) (1993): Childhood as a social phenomenon: lessons from an
international project: international conference Billund, Denmark, 24–16 September 1992.
Vienna: European Centre of Social Welfare Policy and Research.
303 Korczak, Janusz (1999): Sämtliche Werke, Bd. 4. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus,
238.
304 Korczak, Janusz (1999): Sämtliche Werke, Bd. 4, 459.
Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten
Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
- Title
- Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten
- Subtitle
- Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft
- Author
- Helena Stockinger
- Publisher
- Waxmann Verlag GmbH
- Location
- Münster
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8309-8648-5
- Size
- 16.5 x 23.5 cm
- Pages
- 280
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Einleitung 11
- Teil I: Theoretische Grundlagen und Begriffsklärungen 12
- 1. Praktisch-theologische Herangehensweise 12
- 2. Ausgangslage der Forschung 14
- 3. Das Recht der Kinder auf Differenz 16
- 4. Chancen und Herausforderungen der Religionspädagogik 17
- 5. Religiöse Differenz in elementaren Bildungseinrichtungen 18
- 6. Begriffliche Klärungen 20
- Teil II: Forschungsstand 41
- 1. Forschungsergebnisse zum Umgang mit religiöser Differenz 41
- 1.1 Ausgewählte Studien mit Kindern im Grundschulalter 42
- 1.2 Empirische Studien mit Kindern in der Elementarpädagogik 46
- 1.2.1 Eva Hoffmann: Interreligiöses Lernen im Kindergarten? 46
- 1.2.2 Friedrich Schweitzer, Albert Biesinger, Anke Edelbrock: Tübinger Projekte 48
- 1.2.3 David Elkind: Erforschung der Glaubensentwicklung 52
- 1.2.4 Ina ter Avest: Erfahrungen im Umgang mit dem Anderen 53
- 1.2.5 Daniel Bar-Tal: Konzept eines „Arabers“ in Israel 54
- 1.2.6 Paul Connolly et al.: Einstellung gegenüber Gruppen in Nordirland 55
- 1.3 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse 58
- 2. Forschungsfrage 60
- 3. Anliegen der Studie 60
- 4. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse 62
- 5. Möglichkeiten und Grenzen der Kindheitsforschung 67
- Teil III: Methodologische Zugänge der Studie 81
- 1. Qualitativ-empirische Forschung 81
- 2. Ethnographischer Zugang 89
- 3. Grounded Theory 90
- 4. Thematisches Kodieren nach Uwe Flick 94
- 5. Begründung der Forschungszugänge 96
- 6. Überblick über die angewendeten Methoden 98
- Teil IV: Untersuchungsdesign und durchführung 108
- 1. Angewendete Methoden bei der Untersuchung 108
- 2. Auswahl der Kindergärten 114
- 3. Untersuchungsdurchführung 117
- 4. Reflexion der Untersuchungsdurchführung 121
- Teil V: Auswertung 124
- 1. Hinweise zur Auswertung in der vorliegenden Studie 124
- 2. Darstellung der Kindergärten 125
- 3. Kurze Fallbeschreibungen 133
- 4. Datenauswertung 149
- Teil VI: Diskussion 183
- 1. Der Kindergarten als Organisation 183
- 2. Plädoyer: Entwicklung einer Kultur der Anerkennung religiöser Differenz 194
- 3. Rückblick – Ausblick 244
- Literatur 247
- Tabellen und Abbildungsverzeichnis 276
- Anhang 277
- Abstract 279