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Hinweis auf einen „gewissen sprachlichen Minderwertigkeitskomplex“ (XLIV).
Schmid 1990 spricht auch von einem „kollektiven Minderwertigkeitskomplex“
und meint: „Ein gewisses hündisches Verhalten österreichischerseits muss da
allerdings schon konstatiert werden.“ (32) Vor allem Muhr hat im Zusammenhang
mit Spracheinstellungen wiederholt darauf hingewiesen (z. B. Muhr 1982, 1989,
Muhr 2005b), dass bei SprecherInnen nicht- dominanter Varietäten ein sprach-
licher Minderwertigkeitskomplex entstehen könne, also in unserem Kontext bei
ÖsterreicherInnen und SchweizerInnen. Das sei Folge eines weitverbreiteten
Unwissens bezüglich der sprachlichen und kommunikativen Eigenschaften der
eigenen Varietät, was wiederum zur Abwertung und Vermeidung der sprachlichen
Merkmale dieser eigenen Varietät führe. Ein Effekt davon sei eine Art „sprach-
liche Schizophrenie“ (Muhr 2005b, 18).
Der Schweizer Linguist Joachim Scharloth (2005) berichtet von einem Projekt,
das diese Annahmen bestätigt. In diesem Projekt wurde das Sprachbewusstsein der
SchweizerInnen untersucht, z. B. ob sie der Meinung sind, dass es mehrere gleich-
berechtigte Normen in der deutschen Standardsprache gibt. Als Methode wurde
dabei neben einer direkten Befragung der subjective-
evaluation- test verwendet, der
auf indirekte Weise Spracheinstellungen erhebt. Dabei wurden den ProbandInnen
96 Beispielsätze vorgelegt, die dahingehend bewertet werden mussten, ob sie Stan-
dardformen darstellen. Die Beispielsätze enthielten eine Mischung von deutschen
Standards, Schweizer Standard, überregionalem Substandard und Dialektformen.
Die Sätze wurden akustisch präsentiert, und zwar zum Teil von einem deutschen
Sprecher und zum Teil von einem Schweizer Sprecher mit schweizerischem Akzent
gesprochen. Neben einer Reihe anderer interessanter Ergebnisse (z. B. dass 58 %
der DeutschschweizerInnen ihre E-Mails teilweise in der dialektalen Varietät
des Schweizerdeutsch verfassen, und 75 % ihre SMS, Scharloth 2005, 24), zeigte
sich v. a. eine geringe Sprachloyalität der DeutschschweizerInnen ihrer eigenen
Standardvarietät gegenüber: 79 % der Befragten erklärten, Hochdeutsch sei für
die SchweizerInnen die erste Fremdsprache. In einem weiteren Test, in dem sie
gebeten wurden, deutsch(ländisch)e und Schweizer Standardformen zu bewerten,
haben die ProbandInnen in 60 und 70 % der Fälle die Schweizer Varianten als
schlechtes oder fehlerhaftes Standarddeutsch beurteilt (Scharloth 2005, 39), also
z. B. folgende Sätze: „Der Pöstler macht sich jeden Morgen um sieben auf seine
Tour“; „Die Beiz ist hübsch eingerichtet“ oder „Gestern fuhr ich mit dem Tram
ins Krankenhaus“ (a. a. O., 30). Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, als bei
der expliziten direkten Befragung mit dem Fragebogen die Mehrheit (58 %) der
Meinung war, man solle schweizerhochdeutsche Formen pflegen (Scharloth 2005,
30). Resümee: „Deutschschweizer haben offenbar ein sprachliches Inferioritäts-
bewusstsein gegenüber Deutschen und neigen daher dazu, deren Sprachproduk-
tion als besseres Standarddeutsch gelten zu lassen“ (a. a. O., 33). Schmidlin (2011)
weist allerdings darauf hin, dass die von Scharloth gewählten Varianten zum Teil
Grenzfälle des Standards sind.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO. KG, WIEN KÖLN WEIMAR
| Theoretische Einordnung des
Forschungsgegenstandes30
Österreichisches Deutsch macht Schule
Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF)
- Title
- Österreichisches Deutsch macht Schule
- Subtitle
- Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
- Authors
- Rudolf de Cillia
- Jutta Ransmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20888-4
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 266
- Keywords
- Austriacism, teaching German, dialect, Austria, Austrian German, Austriazismus, Deutschunterricht, Dialekt, Lehrbücher, Lehrpläne, Österreich, Österreichisches Deutsch, Plurizentrik, Pluriarealität, Spracheinstellungen, Sprachnormen, Standardsprache
- Category
- Lehrbücher
Table of contents
- 1 Einleitung 10
- 2 Theoretische Einordnung des Forschungsgegenstandes Innere Mehrsprachigkeit – sprachliche Variation – Sprach/en/unterricht 14
- 2.1 (Innersprachliche) Mehrsprachigkeit und sprachliche Variation 14
- 2.2 Status und Rolle/Funktion der deutschen Sprache in den deutschsprachigen Ländern/Regionen 16
- 2.3 Sprachliche Variation und deutsche Sprache 21
- 2.4 Konzeptualisierungen der Variation im Standarddeutschen 24
- 2.5 Sprachliche Variation der deutschen Sprache in Österreich 46
- 2.6 Sprachnorm und Sprachenunterricht 52
- 2.7 Forschungslage zum österreichischen Deutsch als Unterrichts- sprache und ExpertInnenbefragung 57
- 2.7.1 Forschungslücken/Forschungsfragen 59
- 3 Forschungsfragen und Untersuchungsdesign 61
- 4 Analyse von unterrichtsrelevanten Dokumenten (Lehrpläne, Studienpläne, Lehrbücher) 68
- 5 Empirische Erhebung bei LehrerInnen und SchülerInnenan österreichischen Schulen Beschreibung der Daten 89
- 6 Ergebnisse der empirischen Erhebung an Schulen 120
- 6.1 Konzeptualisierung der Variation des Deutschen in Österreich 120
- 6.2 Spracheinstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen 144
- 6.2.1 Korrektheit des österreichischen Deutsch 144
- 6.2.2 Einstellungen gegenüber dem österreichischen, deutschen und Schweizer Standarddeutsch: Polaritätsprofile 152
- 6.2.3 Sprache – Identität 154
- 6.2.4 Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Einstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen unter LehrerInnen und SchülerInnen 161
- 6.3 Korrekturverhalten 163
- 6.5 Dialekt – Umgangssprache – Standard? Angaben zum Varietätengebrauch innerhalb und außerhalb der Schule 198
- 6.6 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Erhebung an den Schulen 215
- 7 Schlussbetrachtung und Ausblick 221
- Anhang 232
- Literatur 237
- Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 252
- Sachregister 256