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auf die sie während des Studiums nicht ausreichend vorbereitet werden. 86 %
der befragten PädagogInnen sagten, dass sprachliche Variation in ihrer Aus-
bildung kaum ein Thema war. Nachdem auch die Lehrpläne und Lehrbücher
(siehe Dokumentenanalyse Kap. 4) aufgrund fehlender Leitlinien keine Orien-
tierungshilfe bieten, berichten die befragten LehrerInnen davon, dass sie sich bei
Entscheidungen über die normative Sprachrichtigkeit im Zusammenhang mit
sprachlicher Variation schwertun. Auch der von den Lehrkräften bei der Text-
korrektur üblicherweise verwendete Kodex (ÖWB, Duden) kann nur bedingt
weiterhelfen, sodass die DeutschlehrerInnen in Normfragen vielfach auf sich
allein gestellt sind und nach eigenem Ermessen entscheiden.
Wie individuell unterschiedlich ausgeprägt dieser Ermessensspielraum in
der Praxis ist, konnte anhand der Korrektur eines Erlebnisaufsatzes festgestellt
werden. Dieser Schüleraufsatz, den die Lehrkräfte zu korrigieren hatten, war frei
von jeglichen Rechtschreib- und Grammatikfehlern, enthielt aber eine Reihe von
(im Kodex als standardsprachlich ausgewiesenen) Austriazismen und Deutsch-
landismen. Wie unterschiedlich das Empfinden in punkto normativer Sprach-
richtigkeit hier von LehrerIn zu LehrerIn ausfällt, wurde zum einen durch die
stark variierende Anzahl an Korrekturen sichtbar, zum anderen durch die Art
der Korrekturen (Welle oder durchgestrichen):
Bei einer Textlänge von knapp 200 Wörtern wurden von einzelnen LehrerInnen
bis zu 14 Normverletzungen markiert, also als „Fehler“ angestrichen
– in einem
prinzipiell „fehlerfreien“ Text. Nimmt man die „Fehler“ und die unterwellten
Ausdrücke zusammen, so haben einige Korrektur- SpitzenreiterInnen sogar bis
zu 25 Mal den Rotstift angesetzt. Andere LehrerInnen machten hingegen keine
einzige Korrektur. Bei bestimmten Merkmalen des österreichischen Deutsch, z. B.
beim Perfekt als Erzählzeit, beim Artikel mit Eigennamen und Verwandtschafts-
bezeichnungen sowie bei Grenzfällen des Standards (z. B. fladern, Wimmerl, am
Eck) wurde besonders häufig unterwellt und in geringerem Ausmaß korrigiert.
Umgekehrt gab es auch einige Deutschlandismen, die häufig angestrichen wur-
den (z. B. an Weihnachten). Wenn der Rotstift zum Einsatz kam, dann wurden
Austriazismen im Vergleich zu Deutschlandismen relativ häufiger als fehlerhaft
empfunden: 8 % der Austriazismen und rund 5 % der Deutschlandismen wurden
durchschnittlich als „Fehler“ korrigiert. Als stilistisch unpassend wurden jedoch
auffallend mehr Deutschlandismen (33 %) unterwellt als Austriazismen (17 %).
Insgesamt haben die Ergebnisse gezeigt, dass die in der Literatur behauptete
starke Exonorm- Orientiertheit bei der Textkorrektur in unserer Untersuchung
bedingt bestätigt werden konnte. Trotzdem war die Normunsicherheit der Lehre-
rInnen in ihrer Funktion als „Sprachnormautoritäten“ augenfällig – eine Tatsa-
che, die als problematisch anzusehen ist. Die Gruppendiskussion der LehrerIn-
nen und auch die Interviews zeigten, dass sich die teilnehmenden LehrerInnen
der Widersprüchlichkeit ihrer Rolle als normsetzende Instanz und der Relativi-
tät von (Sprach-)Normen allerdings bewusst waren. Und dass in der Praxis der
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Erhebung
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Österreichisches Deutsch macht Schule
Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF)
- Title
- Österreichisches Deutsch macht Schule
- Subtitle
- Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
- Authors
- Rudolf de Cillia
- Jutta Ransmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20888-4
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 266
- Keywords
- Austriacism, teaching German, dialect, Austria, Austrian German, Austriazismus, Deutschunterricht, Dialekt, Lehrbücher, Lehrpläne, Österreich, Österreichisches Deutsch, Plurizentrik, Pluriarealität, Spracheinstellungen, Sprachnormen, Standardsprache
- Category
- Lehrbücher
Table of contents
- 1 Einleitung 10
- 2 Theoretische Einordnung des Forschungsgegenstandes Innere Mehrsprachigkeit – sprachliche Variation – Sprach/en/unterricht 14
- 2.1 (Innersprachliche) Mehrsprachigkeit und sprachliche Variation 14
- 2.2 Status und Rolle/Funktion der deutschen Sprache in den deutschsprachigen Ländern/Regionen 16
- 2.3 Sprachliche Variation und deutsche Sprache 21
- 2.4 Konzeptualisierungen der Variation im Standarddeutschen 24
- 2.5 Sprachliche Variation der deutschen Sprache in Österreich 46
- 2.6 Sprachnorm und Sprachenunterricht 52
- 2.7 Forschungslage zum österreichischen Deutsch als Unterrichts- sprache und ExpertInnenbefragung 57
- 2.7.1 Forschungslücken/Forschungsfragen 59
- 3 Forschungsfragen und Untersuchungsdesign 61
- 4 Analyse von unterrichtsrelevanten Dokumenten (Lehrpläne, Studienpläne, Lehrbücher) 68
- 5 Empirische Erhebung bei LehrerInnen und SchülerInnenan österreichischen Schulen Beschreibung der Daten 89
- 6 Ergebnisse der empirischen Erhebung an Schulen 120
- 6.1 Konzeptualisierung der Variation des Deutschen in Österreich 120
- 6.2 Spracheinstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen 144
- 6.2.1 Korrektheit des österreichischen Deutsch 144
- 6.2.2 Einstellungen gegenüber dem österreichischen, deutschen und Schweizer Standarddeutsch: Polaritätsprofile 152
- 6.2.3 Sprache – Identität 154
- 6.2.4 Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Einstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen unter LehrerInnen und SchülerInnen 161
- 6.3 Korrekturverhalten 163
- 6.5 Dialekt – Umgangssprache – Standard? Angaben zum Varietätengebrauch innerhalb und außerhalb der Schule 198
- 6.6 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Erhebung an den Schulen 215
- 7 Schlussbetrachtung und Ausblick 221
- Anhang 232
- Literatur 237
- Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 252
- Sachregister 256