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120 KAPITEL2. KINDHEIT
derung. In einer der Englischstunden (etwa um das Jahr 1951) mußte er eine englische
Passagevorlesen,diediePhrase todo enthielt.Er sprachdiesmit [todo:] (statt [tudu:])
aus, ausdeutscherSicht also gesprochenwie geschrieben.Wirwaren zudiesemZeitpunkt
schon so weit fortgeschritten, daß jedem in der Klasse der Fehler sofort klar war und
als belustigend erschien.Geduldig batFrauRotkegel ihnmehrfach umdieWiederholung
der Passage. Aber Junge! flehte sie ihn an, sich eines Besseren zu besinnen. Er jedoch
erlebte einen totalen Block, stand in einem beklagenswerten Zustand links vorne neben
der zweitenBankreihe vordemFenster123 und starrte dieLehrerinnur entgeistert an, der
angesichts der sichtbarenVerzweiflungdabeiwohl dasHerz brach.Nebenbei gesagt, hielt
dieseÜberlastung für ihn in dieserKlasse an, sodaß er sie schließlichwiederholenmußte.
(Gleichwohlwurde er später erfolgreicherRektor derThusnelda Schule.)
ImFachDeutschmußtenwohl alle Schüler irgendwann einmalGedichte undBalladen
der deutschen Klassiker auswendig lernen, so natürlich auch wir. Klugerweise wurden
aber eineReihedieserBalladenauf dieKlasse so verteilt, sodaßbeispielsweise ich für den
Schillerschen Handschuh124 und andere eben für andere dieserWerke zuständig waren.
ImGegensatz zu demauf S.115 kritisiertenAuswendiglernen vonEinmaleins-Resultaten
halte ichdieseÜbung fürmehralsnützlich.Dennnur inder Innenschauauf einderartiges
Werk erschließt sich dessen Qualität erst richtig. Das von Ritter Delorges demFräulein
Kunigunde samt demHandschuh entgegen geschleuderte Den Dank, Dame, begehr ich
nicht man beachte die genial eingesetzte Alliteration D-D-D sowie die damit ver-
bundene gleichwertigeBetonungder dreiVersfüße imzugrundeliegendenAnapäst und
viele andere Passagen darin habenmich so ein Leben lang begleitet. Auch der Vortrag
einer solchenBalladewirderstdannüberzeugend,wennerausdemeigenentiefen Inneren
kommt, was ohne auswendigerVerfügbarkeit unmöglich ist. Sowurdewohl auch beimir
dieGrundlage für die Fähigkeit zumRedner gelegt, der ich fürmein späteres Leben viel
verdanke.MitdiesemeinenGedichtkonnte ichalsotiefer indasWesenvonDichtungsowie
vonSpracheeindringen,währenddiehorizontaleDimension,alsounterschiedlicheGedich-
te durch denVortrag derKlassenkameraden zumindest präsent gebliebenwar. Darunter
war selbstverständlich auch die SchillerscheBürgschaft.125
GelegentlichdurftenSchülermitdenbestenAufsätzendiesederKlassevorlesen.Beson-
ders istmir davonder vomKameradenGerhardGleißner (genannt Base ) haften geblie-
ben, der darin seine Ferien auf einemBauernhof schilderte. Beispielsweise kamdarin die
humorvoll beschriebeneSzene vor,wie derBauer amMorgen imhölzernenKlo-Häuschen
123DasZimmermußwohl an derWestseite desMelanchtonbaus gelegen haben.
124http://gutenberg.spiegel.de/buch/friedrich-schiller-gedichte-3352/75, Zugriff 25.10.2015.
125http://gutenberg.spiegel.de/buch/friedrich-schiller-gedichte-3352/162, Zugriff 25.10.2015.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Title
- Reflexionen vor Reflexen
- Subtitle
- Memoiren eines Forschers
- Author
- L. Wolfgang Bibel
- Publisher
- Cuviller Verlag Göttingen
- Location
- Göttingen
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 464
- Category
- Biographien
Table of contents
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427