Page - 25 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 25 -
Text of the Page - 25 -
Gerade bei Handke ging die Suche nach und die Erprobung von noch nicht
konventionalisierten Schreibverfahren mit dem Interesse an den literarischen
Innovationen anderer Autoren einher: âHier, bei Konrad Bayer, scheint sich,
endlich, eine neue Literatur anzubahnenâ,62 hĂ€lt Handke im September 1966 â
im Jahr seiner ersten Buchveröffentlichungen â in einem Rundfunkfeuilleton
ĂŒber Bayers der kopf des vitus bering fest. Wenige Monate zuvor hatte er in seiner
Princetoner Polemik gegen die grassierende âBeschreibungsimpotenzâ kritisiert,
dass ein gewichtiger Teil der zeitgenössischen Literatur sich zwar pflichtgemĂ€Ă
vom Traditionellen und Althergebrachten distanziere, aber â und hier fĂ€llt die
Diktion des jungen Handke mit jener der Bourdieuâschen Kultursoziologie in
einsÂ
â noch keine eigene âneue[Â
] Positionâ etabliert habe.63 Sein Anspruch an das
eigene Schreiben, den er etwa im mittlerweile kanonisch gewordenen Essay Ich
bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) formuliert hat, deckt sich dabei mit
dem Anspruch an fremde Texte, die er selbst als Kritiker â u. a. fĂŒr den Spiegel
und die ZEITÂ
â in Augenschein nahm. Die âTatsache, dass Handke sein Schreiben
seit den eigenen literarischen AnfÀngen bestÀndig und eingehend theoretisch
reflektiert hatâ,64 ist nicht zuletzt seiner langjĂ€hrigen Arbeit als Literaturkritiker
geschuldet (s. Kap. V).
Die vorliegende Studie hat sich zum Ziel gesetzt, die bislang bloĂ angedeu-
tete Beziehung zwischen literarischem Schreiben, poetologischer Reflexion
und kritischer Kommentierung aus einer kultursoziologischen Perspektive
nÀher und anhand zahlreicher Mikro-Konstellationen in den Blick zu nehmen.
ScharmĂŒtzel und regelrechte Fehden mit einzelnen Kritikern â etwa Handkes
jahrzehntelanger Konflikt mit Marcel Reich-Ranicki (Kap. IV) â sollen nicht
als literaturbetrieblicher gossip verharmlost, sondern in ihrer âwerkpolitischenâ
sowie poetologischen Bedeutung ernst genommen und, basierend auf einem
breiten Sample von Materialien, im Detail rekonstruiert werden. StÀrker als
bislang wird dabei die Verhandlung des Konzeptes â(Literatur-)Kritikâ auch in
fiktionalen Texten thematisiert: Immer wieder haben Bernhard und Handke,
zumal im Kontext autofiktionaler Schreibprojekte, in ihrem Werk die exponierte
Position des KĂŒnstlers in der Ăffentlichkeit reflektiert und sich dabei mit der
Praxis und den Aporien des Urteilens auseinandergesetzt: Seine Bilder seien,
so lĂ€sst Bernhard den Maler Strauch in Frost (1963) sagen, âimmer gut kritisiert
62 Peter Handke: Die Wörter als Wirklichkeit. [1966] In: P. H.: Tage und Werke (Anm.Â
27), S.Â
12 â 16,
hier S. 15 f.
63 Im Wortlaut: Peter Handkes âAuftrittâ in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. [1966] In:
Text + Kritik (51989), H.Â
24, S.Â
17 â 20, hier S.Â
18. Vgl. dazu zuletzt die erhellenden AusfĂŒhrungen
von Jörg Döring: Peter Handke beschimpft die Gruppe 47. Siegen: universi 2019.
64 Stefan Hofer: FunktionÂ
â Peter Handke. In: Systemtheoretische Literaturwissenschaft. BegriffeÂ
â
MethodenÂ
â Anwendungen. Hg. v. Niels Werber unter Mitarb. v. Maren Lickhardt. Berlin, New
York: de Gruyter 2011, S. 135 â 146, hier S. 136.
âSchreiben ist ein FĂŒnfkampfâ: Eine Art Einleitung 25
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471