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Dabei stehen weniger die Debatten um Handkes âJugoslawien-Texteâ im Mittel-
punkt, die im Zuge der Verleihung des Literatur-Nobelpreises im Herbst 2019
erneut mit groĂer Vehemenz gefĂŒhrt wurden,24 sondern vor allem die ebenso
emotionalen Verhandlungen ĂŒber literarische Formen, Tendenzen und Bewer-
tungskriterien. In diesem Zusammenhang lĂ€sst sich eine âerstaunliche Vernet-
zung des literarischen mit dem kritischen Diskursâ ausmachen,25 die sowohl fĂŒr
die Akkumulation der knappen âRessourceâ Aufmerksamkeit im literarischen
Feld als auch fĂŒr die Durchsetzung und poetologische Flankierung der eigenen
Schreibregel von zentraler Bedeutung ist.
In der Folge soll gezeigt werden, wie gerade die Auseinandersetzung mit lite-
raturkritischen Sprachcodes und Bewertungssystemen als zentraler Aspekt einer
umfassenden Distinktionspraxis, einer âSelbstprofilierung durch Widerspruchâ, 26
zu verstehen ist. FĂŒr die beiden untersuchten Autoren ist dabei eine sehr unter-
schiedliche IntensitÀt und Charakteristik auszumachen: Thomas Bernhard hat zwar
wiederholt ein unzureichendes VerstÀndnis und eine mangelnde WertschÀtzung
seiner Prosatexte und TheaterstĂŒcke im Feuilleton moniert und dies schon Ende
der 1950er Jahre auf das âFehlen auch nur einer einzigen Kritikerpersönlichkeit
in Ăsterreichâ (TBW 22.1, 577) zurĂŒckgefĂŒhrt; er ist jedoch mit wenigen Ausnah-
men kaum je selbst als poetologisch ambitionierter und versierter Kommentator
in Erscheinung getreten. Jene frĂŒhen Texte, die aus seiner RezensionstĂ€tigkeit fĂŒr
das Demokratische Volksblatt, die Salzburger Nachrichten und die Wiener Furche
in der ersten HĂ€lfte der 1950er Jahre hervorgegangen sind, bieten kaum Belastbares
fĂŒr eine stringente Auseinandersetzung mit Aspekten literaturkritischen Wertens;
sie sind, wie Christian Klug schon frĂŒh gezeigt hat, âarm an Kriterien, so daĂ kein
Hintergrund einer theoretisch reflektierten Ăsthetik oder Poetik erkennbar wirdâ.27
24 Vgl. dazu exemplarisch Ulrich Breuer: Parasitenfragen. Medienkritische Argumente in Peter
Handkes Serbienreise. In: Mediensprache â Medienkritik. Hg. v. U. B. u. Jarmo Korhonen.
Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2001, S.Â
285 â 303; Martin Sexl: Literatur als Bildkritik. Peter Handke
und die Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach
1989. Hg. v. Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 89 â 106;
JĂŒrgen Brokoff: âIch wĂ€re gern noch viel skandalöserâ. Peter Handkes Texte zum Jugoslawien-
Krieg im Spannungsfeld von Medien, Politik und Poesie. In: Peter Handke. Stationen, Orte,
Positionen. Hg. v. Anna Kinder. Berlin, Boston: de Gruyter 2014, S. 17 â 37.
25 Uwe C. Steiner: Literatur als Kritik der Kritik. Die Debatte um Peter Handkes Mein Jahr in der
Niemandsbucht und die Langsame Heimkehr. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider
ihre VerĂ€chter. Hg. v. Christian Döring. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S.Â
127 â 169, hier S.Â
127.
26 Otto Lorenz: Die Ăffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publi-
kationsstrategien: Wolfgang Koeppen â Peter Handke â Horst-Eberhard Richter. TĂŒbingen:
Niemeyer 1998, S. 167.
27 Christian Klug: Thomas Bernhards Arbeiten fĂŒr das Salzburger Demokratische Volksblatt 1952 bis
1954. In: Modern Austrian Literature 21 (1988), H.Â
3/4, S.Â
135 â 172, hier S.Â
145. Dazu ausfĂŒhrlich
Kap. VI.
âich kann mich damit schwer abfindenâ: Kritik der Kritik als
Werkpolitik32
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471