Page - 57 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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erschöpfen, und in der Folge eine ganze âGeneration junger Schriftstellerâ eines
unproduktiven âintrovertierten Herumkramensâ bezichtigt, das sich bevorzugt in
Varianten von âHarfezupfen und Schalmeienblasenâ ergehe, statt mit âEmotionâ
und âErregungâ einer ârobusten MaskulinitĂ€tâ, die er gegen das âSchöngeistigeâ
der Handke-Generation setzt, Ausdruck zu verleihen.134 Interessanterweise bringt
Lind diese von ihm diagnostizierte Fehlentwicklung der Gegenwartsliteratur in
einen direkten kausalen Nexus mit der literaturkritischen Praxis von âMayer,
Reich-Ranicki, Jens, Höllerer, Baumgart und Kaiserâ, verdanke man deren âFor-
malitĂ€tâ und âliterarische[m] PreuĂentumâ doch den Umstand, âdaĂ sich heute
âdie Jungenâ mit StilĂŒbungen und SchriftgeplĂ€tscher beschĂ€ftigenâ.135 Linds Insulta-
tion hÀtte Handke wohl kaum empfindlicher in seinem SelbstverstÀndnis und in
seinen Ambitionen treffen können: Hatte er sich in seinem Statement in Prince-
ton und seiner âNachschriftâ in konkret gerade gegen diese âlĂ€ppischen Kritikerâ
gerichtet, denen er jegliches Sensorium fĂŒr innovative Textformen und âneue
Sprachgestik[en]â 136 absprach, zeichnete Lind ihn nun â durchaus perfide â als
Produkt von deren Àsthetischen PrÀferenzen.
Bedenkt man die Tragweite von Jakov Linds Kritik, reagierte Handke in den
Akzenten beinahe ĂŒberraschend abgeklĂ€rt: âZu einer programmatischen ErklĂ€-
rung ĂŒber meine Arbeit bin ich im Augenblick nicht aufgelegtâ, setzt Handke
unaufgeregt ein, um seinen Kontrahenten sogleich en passant einer konservati-
ven Fraktion zuzuschlagen, die das innovative Potential von Handkes Schreiben
nicht wertzuschĂ€tzen imstande sei: âWas Jakov Lind sagt, sagt er halt. Den Fort-
gang der Literatur wird er nicht aufhalten.â 137 Handke verfolgt hier jene Strate-
gie, die Pierre Bourdieu in Die Regeln der Kunst als wichtiges Grundmuster der
Entwicklung im literarischen Feld beschrieben hat: Indem er die Ăsthetik des
134 Lind: Zarte Seelen, trockene Texte (Anm. 59), S. 79. Vgl. ebd.: âHandkes Buch regt zu einer
allgemeinen Frage an: Was ist von einer Literatur ohne Themen und was von einer Sprache zu
halten, die es fertigbringt, gleichzeitig wortreich und nichtssagend zu sein? Ich bin nicht sicher,
ob man, wie es seit Jahr und Tag in der Gruppe 47 behauptet wird, nur den Stil und nichts als
den Stil beurteilen soll. Das mag dem Germanisten genĂŒgen, ein normaler Mensch [!] aber
will etwas erfahren, möglichst etwas Interessantes, oder zumindest von irgend etwas berĂŒhrt,
betroffen werden.â Magenau: Princeton 66 (Anm.Â
77), S.Â
180, bezieht Linds Verriss auf Handkes
Princetoner Polemik, die eine âversteckte Selbstkritikâ im Sinne einer âverborgene[n] Einsicht
ins eigene Unvermögenâ vorgestellt habe.
135 Lind: Zarte Seelen, trockene Texte (Anm. 59), S. 79. Gleichzeitig verteidigt Lind die Kritiker
gegen Handkes pauschale VorwĂŒrfe, treffe diese doch âdie geringste Schuld am allgemein fest-
zustellenden Unbehagen gegenĂŒber der zeitgenössischen Literaturâ (Terhorst: Die Entstehung
literarischen Ruhms [Anm. 53], S. 47).
136 Handke: Im Wortlaut (Anm. 64), S. 18.
137 Peter Handke: Wenn ich schreibe. In: Akzente 13 (1966), H. 5, S. 467. In der Debatte zwischen
Handke und Lind meldeten sich auch andere Schriftsteller, etwa Adolf Muschg, zu Wort. Vgl.
Adolf Muschg: Ein Brief. In: Akzente 13 (1966), H. 5, S. 478 â 479.
Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 57
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471