Page - 66 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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gerungen, wonach eine weitgehende „Analogie“ zwischen „Lebensstil und künst-
lerischem Stil“ 8 besteht. Er hat sich in diesem Zusammenhang mit Nachdruck
dagegen zur Wehr gesetzt, von den Ausgangsbedingungen seines Milieus im
selben Maße determiniert und gehemmt zu werden, wie er dies am Beispiel sei-
nes Großvaters Johannes Freumbichler hatte beobachten können; auch in dieser
Hinsicht kann Freumbichler als „wichtige Folie für Bernhards Schreiben“, konkret
für dessen Entwurf von Autorschaft, gelten.9 Die Faszination des Enkels für die
Lebenswelt der Aristokratie und des intellektuellen Großbürgertums ist die Kehr-
seite und negative Entsprechung seiner Distinktion vom vielbeschworenen „Her-
kunftskomplex“ (TBW 9, 158), an dem sich Bernhard beharrlich abgearbeitet hat.
Die Images des vulgären, dickbäuchigen Kritikers auf der einen und des
kleinbürgerlichen Zettelkastenautors auf der anderen Seite, die Bernhard in den
zitierten Interviews spielerisch und mit erkennbarer Lust an der Denunziation
lanciert hat, arbeiten mit an einer umfassenden Abwertung der literarischen
bzw. literaturkritischen Praxis der Geschmähten. Bernhards Polemiken tragen,
zumal in den späteren Jahren seines Schaffens, oft das Gewand der Satire, büßen
im Zuge der humoristischen Zuspitzung ihre konkrete Treffsicherheit aber noch
stärker als bisher ein. Namentlich seine Vorhaltungen gegenüber der Institution
der Literaturkritik, die im Folgenden rekapituliert werden sollen, offenbaren selbst
dort, wo sie von einer gewissen Akribie der Auseinandersetzung zeugen, eine (bei
Bernhard hinlänglich bekannte) Neigung zur undifferenzierten Verallgemeine-
rung und Übertreibung.10 Ein gerade fertiggestelltes Theaterstück warte, so der
Autor im Dezember 1981 in einem Brief an Siegfried Unseld, in dem er die bei
Suhrkamp verlegte Werkgeschichte seines Œuvres als „vollkommen überflüssige
Scheusslichkeit“ bezeichnet, „darauf, wie alle anderen, völlig missverstanden zu
werden. Ich habe mich mit der Dummheit der Beurteiler abgefunden.“ 11 Knapp
vier Jahre später hat sich Bernhards Aggression gegen im Grunde alle anderen
8 Ebd., S. 27.
9 Bernhard Judex: Der Schriftsteller Johannes Freumbichler. 1881 – 1949. Leben und Werk von
Thomas Bernhards Großvater. Wien u. a.: Böhlau 2006, S. 223.
10 Vgl. dazu bereits Sigurd Paul Scheichl: Nicht Kritik, sondern Provokation. Vier Thesen über
Thomas Bernhard und die Gesellschaft. In: Annali. Studi Tedeschi 22 (1979), H. 1, S. 101 – 119;
später, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Josef Donnenberg: Thomas Bernhards Zeitkritik
und Österreich. In: Literarisches Kolloquium Thomas Bernhard. Materialien. Hg. v. Johann
Lachinger u. Alfred Pittertschatscher. Weitra: Bibliothek der Provinz 1994, S. 53 – 72. Willi
Huntemann: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen
&
Neumann 1990, S. 204, hat für Bernhards Polemiken ganz allgemein festgestellt: „Das Bern-
hardsche Schimpfen glänzt durch seine Rhetorik, die Inhalte sind sekundär und austauschbar,
was in zunehmender Tendenz für die späteren Werke überhaupt gilt.“
11 Thomas Bernhard an Siegfried Unseld, 17. 12. 1981. In: T. B./S. U.: Der Briefwechsel. Hg. v.
Raimund Fellinger, Martin Huber u. Julia Ketterer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 644.
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik66
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471