Page - 85 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Wer weiĂ, was sie alle von mir erwarten ⊠DaĂ i a schwarzâ Kreuz tragâ, daĂ i
umfallâÂ
âŠâ (TBW 22.2, 85) Nicht nur wĂŒrden die Kritiker wie andere, nicht-pro-
fessionelle Leser bei der LektĂŒre seiner BĂŒcher von der fatalen Ausweglosigkeit
der geschilderten Welt umstandslos auf Psyche und LebensrealitÀt des Autors
Bernhard schlieĂen.80 Sie seien, so Bernhard, darĂŒber hinaus nicht in der Lage,
die Feinheiten seines Prosarhythmus und der musikalischen Strukturen seiner
TheaterstĂŒcke zur Kenntnis zu nehmen.
Im âNachtgesprĂ€châ mit Peter Hamm â 1977 in Ohlsdorf gefĂŒhrt, aber erst
2011 veröffentlicht â hat der Autor sich ausfĂŒhrlicher dazu geĂ€uĂert und, in der
Sache durchaus ernsthaft, FortbildungsmaĂnahmen fĂŒr die kritisierten Kritiker
angeregt:
Ja, ich sehe die ProsastĂŒcke wie die StĂŒcke als Partituren. Die Kritiker aber sehen nur
die Singstimme oder den Klavierauszug, und dadurch geht bei ihnen immer alles
daneben, weil sie das Ganze nicht sehen. Sie sehen nur den Auszug und die Ober-
stimme. Und das ist fĂŒr mich immer der Ruin, und deshalb habâ ich eigentlich noch
nie das gelesen, was das treffen wĂŒrde, nicht? Ob jetzt positiv oder negativ, das ist
ganz wurscht. Der Literaturkritiker mĂŒĂte eigentlich auch um die drei Jahre in die
Musikhochschule gehen, finde ich. Literatur hat ja sehr viel damit zu tun. Und wer
das nicht macht, der ist einfach degradiert von vornherein. (TBW 22.2, 111)
Bei einer anderen Gelegenheit, in einem zunÀchst in Le Monde publizierten, ein
Jahr darauf im Suhrkamp-Spectaculum auf Deutsch erschienenen 81 Interview mit
dem französischen Journalisten Jean-Louis de Rambures, attestiert Bernhard
80 Vgl. die einschlÀgige Passage im ersten GesprÀch mit Krista Fleischmann, Monologe auf Mallorca
(1981): â[I]ch bin wahrscheinlich lebenslĂ€nglich der negative Schriftsteller. [âŠ] Weil die Leutâ
sagen, ich bin ein negativer Schriftsteller, und ich bin aber gleichzeitig ein positiver Mensch.â
(TBW 22.2, 191 f.) Ăhnlich hatte sich Bernhard bereits 1977 gegenĂŒber Peter Hamm geĂ€uĂert:
âIch bin ja nicht todesverfallen, die Kritik, die so was immer wieder behauptet, ist ja ein Blöd-
sinn. Wer dem Tod verfallen ist, könnte so nie schreiben.â (TBW 22.2, 118) Im 1978 gefĂŒhrten
ORF-Interview mit Brigitte Hofer hat Bernhard das âZurechtrĂŒckenâ journalistischer Kommen-
tare zudem als nicht unwesentlichen Antrieb fĂŒr die Publikation seiner autobiographischen
BĂŒcher ins Spiel gebracht: âIch meinâ, wenn ich die Zeitungen aufmachâ, stehn da ĂŒber mich die
unmöglichsten Sachen, und âmein Weg geht dorthin und dahinâ und alles, was Tod betrifft und
Leben und Philosophie und einfaches Leben und hin und her, das ist alles falsch bis jetzt. Und
dann kommt der Moment, wo einem vor dieser Sache graust, und dann setzt man sich selber
hin und versucht, das mehr oder weniger ins Authentische zu bringen.â (TBW 22.2, 138)
81 Der Kommentar der Werkausgabe unterschlÀgt den deutschsprachigen Druck zu Lebzeiten
und nennt Sepp Dreissingers Sammelband Von einer Katastrophe in die andere (1992) als Erst-
erscheinungsort des Interviews auf Deutsch (vgl. TBW 22.2, 517). Vgl. jedoch Jean-Louis de
Rambures: Thomas Bernhard im GesprÀch mit Le Monde. In: Spectaculum 39. Sechs moderne
TheaterstĂŒcke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 242 â 245.
âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 85
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471