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Die Wiener sieht er nicht liebenswĂŒrdig, sondern von der UnfĂ€higkeit, sich selbst zu
kritisieren, berauscht. Diese Beobachtung trifft auch die jungen und zÀh Àlter wer-
denden Literaten dieser Stadt, die, Epigonen von Natur aus, in den KaffeehÀusern bei
lebendigem Leib vermodern. Keiner Hymne und keines Intellekts fÀhig, beweihrÀu-
chern sie sich gegenseitig an den Extratischen und in den Spalten der schmutzigsten,
witzlosesten und unbedeutendsten ZeitungsblÀtter der Welt. (TBW 22.1, 577)
Bernhards Suada, in der er sein eigenes Schreiben, als Gegenentwurf zu den
denunzierten Zeitgenossen, in der Tradition von Dostojewski, Hamsun und
Thomas Wolfe als radikale Abkehr vom Herkömmlichen verortet, verrÀt noch
eine gewisse stilistische Unbeholfenheit â und ein nicht unerhebliches MaĂ an
PrÀtention. Sie nimmt gleichwohl eine Behauptung vorweg, die der Autor spÀter
mit Blick auf sein ProsadebĂŒt Frost (1963) erneut vehement vertreten sollte: Der
österreichische Kulturbetrieb entbehre nicht nur einer ernstzunehmenden âKriti-
kerpersönlichkeitâ, sondern er verschlieĂe sich, folgt man Bernhards Narrativ,
zudem aus EigendĂŒnkel allen Impulsen von auĂen.86 Die Rezeption von Frost
habe, so Bernhard im Abstand von knapp zwei Jahrzehnten im erst postum ver-
öffentlichten Prosatext Meine Preise, âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten
VerriĂâ gereicht (TBW 22.2, 384). Carl Zuckmayers euphorische Rezension in
der ZEIT, die fĂŒr seine Durchsetzung im literarischen Feld eine nicht unerheb-
liche Rolle spielte, hebt Bernhard ausdrĂŒcklich hervor. TatsĂ€chlich eröffnete
Zuckmayers Besprechung des Romans âeinen Reigen enthusiastischer Rezen-
sionen im deutschsprachigen Feuilletonâ, die sich âvon der Neuartigkeit und der
IntensitĂ€t dieser Literatur fasziniertâ 87 zeigten; die Rezeption des Buches in Tages-
und Wochenzeitungen hat von âZuckmayers ĂŒberaus positive[r] Rezensionâ und
vom âKonsekrationskapital des im deutschsprachigen Raum so renommierten
Autorsâ jedenfalls stark profitiert.88
86 Eine EinschÀtzung, die, zieht man etwa die AktivitÀten der Wiener Avantgardeformation um
Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard RĂŒhm und Oswald Wiener in den
1950er Jahren in Betracht, die sich intensiv um einen Anschluss an internationale Strömungen
bemĂŒhten, nur bedingt ĂŒberzeugen kann, zumal sich auch einige konservative Akteure des
Kulturbetriebs, u. a. Heimito von Doderer und Hans Sedlmayr, fĂŒr die junge Autorengenera-
tion einsetzten. Sedlmayr verfasste 1958 ein Vorwort zu Artmanns med ana schwoazzn dintn.
gedichta r aus bradnsee, Doderer ein Jahr spÀter ein Geleitwort zur Gemeinschaftsproduktion
von Achleitner, Artmann und RĂŒhm, zum Lyrikband hosn rosn baa.Â
â Zur Bedeutung der Wie-
ner Gruppe fĂŒr die österreichische Literaturgeschichte vgl. exemplarisch den Sammelband:
verschiedene sÀtze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion. Hg. v. Thomas Eder u. Juliane
Vogel. Wien: Zsolnay 2008.
87 GĂŒnther Stocker: Bernhard und die literarische Landschaft Ăsterreichs der 1950er und 1960er
Jahre. In: Bernhard-Handbuch (Anm. 75), S. 296 â 301, hier S. 299.
88 Michael Billenkamp: Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der
Figur Bernhard. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik88
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471