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Gerichtsreporter“ und „Der Beginn des Schriftstellerischen“ 105 hätte wohl die-
sen Kampf zum Gegenstand gehabt und den Bericht vom Weg „in die entgegen-
gesetzte Richtung“ (TBW 10, 114), den Bernhard in Der Keller in vielfacher syn-
taktischer Variation gestaltet hat, auf seinen frühen künstlerischen Werdegang
ausgedehnt. Sich gegen den „jahrelangen Morast aller Kritiker“ 106 behauptet zu
haben, wie Bernhard 1975 in einem Brief an Unseld schreibt, spielt für dieses
Narrativ eine zentrale Rolle, sind doch die Kritiker es, die als „Tür steher“ 107 ganz
wesentlich über die Zulassungsbedingungen und Wertmaßstäbe im literarischen
Feld entscheiden.108 Überprüft man Bernhards Behauptung, wonach sich gerade
in Österreich eine Phalanx von Kritikern von Anfang an gegen ihn gestellt habe,
an den historischen Dokumenten, kann von einer solchen einhelligen Gegner-
schaft jedenfalls nicht die Rede sein
– zumal, wenn man die Rezeption von Frost
mit der drei Jahre später deutlich kritischeren, ja oftmals polemischen Aufnahme
von Peter Handkes Debütroman Die Hornissen im deutschsprachigen Feuille-
ton vergleicht.109
Der zitierte Brief an Peter Schünemann vom 2.
Februar 1963 zeigt außerdem,
dass sich Bernhard bereits vor der Veröffentlichung von Frost um eine positive
Resonanz im Feuilleton bemühte. Er regte dabei nicht nur die Versendung von
Rezensionsexemplaren an diverse Kritiker an, sondern gab Schünemann gegen-
über auch freimütig zu, sich aus taktischen Gründen mit diesen in gutes Einver-
nehmen setzen zu wollen: „Die ganze Presse ist ein grosser Schmarrn
– aber man
muss es ihr nicht laut sagen. Man muss sich auch nicht, weil man überall vorlaut
ist, immer überall alles vermasseln.“ 110 Gezielt um die Gunst einzelner Kritiker zu
werben – etwa des FAZ-Journalisten Andreas Razumovsky, der ihm „bei Tisch“
versichert habe, „den Roman besprechen“ zu wollen – sei zwar „blöd, wie fast
alles“, aber, so Bernhard weiter, auch „wirksam“: „Der Welt muss man ja so kom-
men, wie sie es verdient und haben will: geschäftsmässig.“ 111 Von einem naiven
Debütanten, über den die etablierten Kritiker erbarmungs- und verständnislos
herfallen, kann hier kaum die Rede sein; das „allgemeine Besprechungsgewitter“,
105 Unseld: Reisebericht Salzburg, 24. – 26. Juli 1980. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel
(Anm. 11), S. 597 f.
106 Bernhard an Unseld, 22. 7. 1975. In: ebd., S. 480.
107 Daniela Strigl: Alles muss man selber machen. Biographie, Kritik, Essay. Graz, Wien: Droschl
2018, S. 65.
108 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 5), S. 357 f.; Carolin John-Wenndorf: Der öffent-
liche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld: transcript 2014, S. 27.
109 Vgl. Kap.
II, Abschnitt „‚Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren
…‘:
Handkes Hornissen nach Princeton“.
110 Bernhard an Schünemann, 2. 2. 1963. In: Botond: Briefe an Thomas Bernhard (Anm.
98), S.
13,
Anm. 1.
111 Ebd., S. 14, Anm. 1.
„vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 93
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471