Page - 106 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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âUnverstĂ€ndnisâ und âAblehnungâ eingebracht habe (TBW 17, 25). Wie andere
Protagonisten in Bernhards Prosa- und Theatertexten kann Minetti sich indes
nicht von den Bewertungen seiner Kunst durch andere, durch die Instanzen der
Kritik zumal, lösen: âSeit dreiĂig Jahrenâ trĂ€gt er einen Koffer bei sich, in dem
sich nicht nur âdie Maske des Lear / von Ensorâ befindet, sondern auch âmeh-
rere Zeitungsausschnitte / mich betreffend / Rezensionen / Artikel ĂŒber michâ
(TBW 17, 39).168 Immer wieder âöffnetâ Minetti, wie die Regieanweisungen ver-
raten, âden Koffer und entnimmt ihm verschiedene alte Zeitungenâ (TBW 17, 47),
zitiert in der Folge aus diesen â âEiner unserer gröĂten Schauspieler / der sich
an diesem Abend wiederÂ
/ ein Denkmal gesetzt hatâÂ
â, um sie schlieĂlich âplötz-
lichâ mit dem Ausruf âGenug / ekelhaft ekelhaft ekelhaftâ wieder in den Koffer
zu stopfen; jedoch nur, um gleich darauf erneut âeinen Pack anderer Zeitungen
heraus[zuholen]â (TBW 17, 47 f.). Noch gegen Ende der dritten und letzten Szene
konstatiert der Schauspieler mit Blick auf sein GepĂ€ckstĂŒck: âWir sind drei-
Ăig Jahre / zusammengeblieben / der Koffer und ichâ (TBW 17, 63). Obgleich
Minetti in allen Artikeln, insbesondere in den Berichten ĂŒber die juristischen
Ausein andersetzungen mit dem LĂŒbecker Theater, zuallererst âVerdrehungen
und Verleumdungenâ (TBW 17, 48) wahrnimmt, kann er sich doch nicht von
ihnen trennen. Das Taxieren der eigenen Geltung in der Theaterkritik ist fĂŒr ihn
ganz offensichtlich von essentieller Bedeutung, auch wenn er den bewertenden
Instan zen des Feuilletons demonstrativ den Respekt verweigert.
Hanna Klessinger hat mit Blick auf Bernhards TheaterÀsthetik von vielfÀltigen
Formen der âMetatheatralitĂ€tâ gesprochen,169 von der Thematisierung der Insti-
tution âTheaterâ und der Reflexion des Dispositivs âBĂŒhneâ. In Minetti zeigt sich
diese Dimension einerseits in der âprononcierte[n] IntertextualitĂ€tâ 170 des StĂŒcks
(in Bezug auf Shakespeares The Tragedy of King Lear); andererseits ergeben sich
âmetatheatralischeâ Effekte aber auch und insbesondere im Zuge der Auseinan-
dersetzung mit den Verlockungen und Gefahren der KritikÂ
â nicht abseits, son-
dern eben auf der BĂŒhne. Der Schauspieler Minetti, der den Schauspieler Minetti
spielt, fĂŒhrt dabei im Sinne der Bourdieuâschen âSelbstobjektivierungâ171 auch die
168 Vgl. Heinrici: Maskenwahnsinn (Anm.Â
167), S.Â
113: âDie alles ĂŒberlagernde Vergangenheit wird
auch durch den Koffer symbolisiert, der Minettis angeblich [?] von Ensor hergestellte Lear-
Maske und Rezensionen seiner frĂŒheren Auftritte sowie Artikel ĂŒber seine Vertreibung aus
dem Theater und somit im ĂŒbertragenen Sinne alles, was seine IdentitĂ€t ausmacht, enthĂ€lt.â
Zur Bedeutung der Rezensionen vgl. auch ebd., S. 124 f.
169 Hanna Klessinger: Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke,
Heiner MĂŒller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz. Berlin, Boston: de Gruyter 2015, S. 22.
170 Martin Brunkhorst: Minetti oder Beckett und Bernhard. In: Beckett und die Literatur der Gegen-
wart. Hg. v. M. B., Gerd Rohmann u. Konrad Schoell. Heidelberg: Winter 1988, S.Â
175 â 189, hier
S. 175.
171 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 5), S. 54 f.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik106
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471