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Die Abhängigkeit von der Gunst des Publikums wie von jener der Kritik wird in
Bernhards Theatertexten immer wieder als prekäre Herausforderung des darstel-
lenden Künstlers thematisiert. Sie verweist dabei auf einen grundlegenden Aspekt
künstlerischer Produktivität, der für das Werk des Autors insgesamt, explizit
thematisiert wie implizit verhandelt, von zentraler Bedeutung ist: Der Genuss
des „Besprechungsmenu[s], das auf eine Veröffentlichung folgt“,179 birgt stets die
Gefahr, den Organismus des Künstlers aus dem Gleichgewicht zu bringen – sei
es durch zu süße Worte oder durch zu stark gewürzte Urteile.
1986 hat Bernhard dem geschätzten Schauspieler Bernhard Minetti mit Ein-
fach kompliziert ein weiteres Theaterstück gewidmet: „Für Minetti“ ist in der
Erstausgabe noch vor dem Motto aus Shakespeares Richard III. auf einem eige-
nen Blatt zu lesen;180 in der Uraufführung am Schillertheater Berlin (Regie Klaus
André) übernahm Minetti die Hauptrolle. Siegfried Unseld notierte in seiner
Chronik nach der ersten Lektüre, er sei „zum ersten Mal tief enttäuscht“ von
einem Manuskript des Autors; es handle sich bloß um einen „müde[n] Aufguß“
früherer Theaterarbeiten.181 Auch wenn der Protagonist von Einfach kompliziert
lediglich den Namen „Er“ trägt, spinnt Bernhard darin die Geschichte des Schau-
spielers aus Minetti weiter:182 Ein laut Regieanweisung „alter Schauspieler“ lebt
abgeschieden von der Welt und ihren Zumutungen. Er versucht sich anfangs an
kleineren Reparaturen in seinem verwahrlosten Zimmer, reflektiert seine pre-
käre Künstlerexistenz und gedenkt wehmütig seiner einstigen Bühnenauftritte.183
Indem er mit der Krone Richards III. vor dem Spiegel posiert und überzeugt ist,
diese sitze erst „richtig“, „wenn der Kopf blutet“, imaginiert er sich als leiden-
den Christus, als Schauspieler mit der Dornenkrone (TBW 20, 31), weiß jedoch
gleichzeitig über seine eigene „Überheblichkeit
/ Selbstüberschätzung“ (TBW 20,
179 Bernhard an Unseld, 18. 5. 1967. In: ebd., S. 56.
180 Thomas Bernhard: Einfach kompliziert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. [5].
181 Unseld: Chronik [15. 7. 1985]. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
11), S.
724; vgl. dazu
auch Huntemann: Artistik und Rollenspiel (Anm. 10), S. 213 f.
182 So war „Er“ wie „Minetti“ etwa „[i]mmer wieder in Prozesse verwickelt / aber nie einge-
sperrt“ (TBW 20, 58); daneben hat Bernhard auch Elemente seiner eigenen Biographie in die
Figur des Schauspielers in Einfach kompliziert eingearbeitet: „Im Thüringer Wald / haben sie
mich drei Monate / allein gelassen / sich nicht um mich gekümmert / und ich war noch nicht
elf Jahre alt / Wir verzeihen ihnen nicht / dazu sind wir nicht befähigt / den Eltern ist nicht
zu verzeihen / Das Geborenwerdenverbrechen ist nicht zu verzeihen“ (TBW 20, 37). Zu den
lebensgeschichtlichen Implikationen dieser Stelle vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard [2015]
(Anm. 42), S. 55 f.
183 Vgl. zu dieser Grundkonstellation bei Bernhard Hans Höller: Selbstporträts des Künstlers
als alter Mann. Zu typischen Figuren bei Thomas Bernhard, Franz Grillparzer und Adalbert
Stifter. In: Bernhard-Tage Ohlsdorf 1999. „In die entgegengesetzte Richtung“. Thomas Bernhard
und sein Großvater Johannes Freumbichler. Materialien. Hg. v. Franz Gebesmair u. Manfred
Mittermayer. Weitra: Bibliothek der Provinz [2000], S. 201 – 214.
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik110
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471