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Eine Ad-hoc-Verteidigung war Handke aufgrund des etablierten Reglements der
Gruppe 47 verwehrt: Wie spĂ€ter bei den Klagenfurter âTagen der deutschspra-
chigen Literaturâ, die Reich-Ranicki von 1977 bis 1986 ganz wesentlich prĂ€gen
sollte,8 hatten die lesenden Autorinnen und Autoren nicht die Möglichkeit,
direkt auf die Kommentare der Kritiker zu antworten, sondern mussten Lob und
mitunter fundamentale EinwĂ€nde duldsam und schweigend ĂŒber sich ergehen
lassen.9 Allerdings nahm Handke in der Folge Reich-Ranickis Bemerkung, sich
bei der Lesung aus dem Hausierer vor allem âgelangweiltâ zu haben, in seiner
Princetoner Einrede gegen die âBeschreibungsimpotenzâ auf, um sie als Beleg
fĂŒr seine These, wonach die Kritik ihr Sensorium fĂŒr innovative erzĂ€hlerische
Artikulationsformen eingebĂŒĂt habe, anzufĂŒhren: Es sei, so Handkes verdecktes
Revanchefoul an Reich-Ranicki, eines der eingeschliffenen Reaktionsmuster der
Literaturkritik, auf irritierende Leseerfahrungen mit der Bekundung zu antwor-
ten, man habe den Text fĂŒr âlangweiligâ befunden:
Wenn nun eine neue Sprachgestik auftaucht, (Zwischenruf: Psst!) so kann die Kritik
nichts anderes, vermag die Kritik nichts anderes, als eben zu sagen ⊠entweder
zu sagen, das ist langweilig, sich in Beschimpfungen zu ergehen, oder auch eben
auf gewisse einzelne SprachschwÀchen einzugehen, die sicher noch vorhanden
sein werden.10
Handkes Protest beschrÀnkte sich in der Folge nicht auf die pauschale Abwer-
tung der Kritiker, die âdas sogenannte gesellschaftliche Engagement des Schrift-
stellers [âŠ] an den Objektenâ statt âan der Sprache, mit der er diese Objekte
beschreibtâ, gemessen hĂ€tten,11 sowie die bereits eingangs zitierte Nennung Reich-
Ranickis als âindiskutablenâ Kritiker in seinem offenen Brief an GĂŒnter Grass in
der MĂŒnchner Abendzeitung. Mit einigem zeitlichen Abstand richtete er sich
8 Vgl. dazu detailliert Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. Wien
u. a.: Böhlau 2004; zum Vergleich von Gruppe 47 und Ingeborg-Bachmann-Preis ebd., S.Â
56 â 61.
9 Vgl. zu dieser Regel etwa Magenau: Princeton 66 (Anm.Â
7), S.Â
43, 173 u.Â
190; Reinhard Baumgart:
Damals. Ein Leben in Deutschland. 1929 â 2003. [MĂŒnchen]: Hanser 2003, S.Â
243. Zum Modus
der âmĂŒndlichen Sofortkritikâ vgl. Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart, Weimar: Metzler
2001, S. 57 f.
10 Im Wortlaut: Peter Handkes âAuftrittâ in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: Text + Kritik
(51989), H. 24, S. 17 â 20, hier S. 18. â Noch in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) hat Handke
auf diesen Vorwurf angespielt: âNur einmal, wie von mir gelangweilt, hielt er ein, blinzelte
heuchlerisch zur Seiteâ (Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1980, S. 57). â Zuletzt hat Jörg Döring: Peter Handke beschimpft die Gruppe 47. Siegen:
universi 2019, S. 39 â 57, 70 u. 101 f., darauf hingewiesen, dass Handkes Princetoner Polemik
ganz wesentlich mit den Reaktionen auf seine eigene Lesung in Beziehung stand.
11 Peter Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA. [1966] In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des
Elfenbeinturms (Anm. 2), S. 29 â 34, hier S. 30 f.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki144
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471