Page - 147 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Strukturalismusâ,23 namentlich an Roland Barthes, verbindet, fungieren fĂŒr
Handke gerade Barthesâ Mythen des Alltags als kulturtheoretischer Bezugspunkt,
ja der Semiotiker selbst als Kronzeuge und intellektuelle Instanz fĂŒr seine Atta-
cke gegen Reich-Ranicki. Im NatĂŒrlichkeits-Essay zitiert Handke zustimmend
eine Passage des Kapitels âStumme und blinde Kritikâ aus den Mythen des All-
tags, die 1964 in deutscher Ăbersetzung von Helmut Scheffel in der âedition
suhrkampâ erschienen waren und die Handke ein Jahr darauf in einer âBĂŒcher-
eckeâ-Sendung 24 vorgestellt hatte:
âWarum erklĂ€rt die Kritik von Zeit zu Zeit ihre Ohnmacht oder VerstĂ€ndnislosig-
keit?â schreibt Roland Barthes in den Mythen des Alltags: â⊠es geschieht gewiĂ
nicht aus Bescheidenheit; niemand fĂŒhlt sich wohler als jemand, der bekennt, daĂ
er nichts vom Existenzialismus begreift, und niemand ist selbstsicherer als ein ande-
rer, der verschĂ€mt eingesteht, daĂ er nicht das GlĂŒck habe, in die Philosophie des
AuĂerordentlichen eingeweiht zu sein âŠâ: das trifft, mit verĂ€nderten Themen, auf
Reich-Ranicki zu.25
23 Ebd., S. 69.
24 Vgl. Peter Handke: âBĂŒchereckeâ vom 11. 10. 1965. In: P. H.: Tage und Werke. Begleitschreiben.
Berlin: Suhrkamp 2015, S. 240 â 248, hier S. 240 â 243.
25 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm.Â
2), S.Â
205 f. Die zitierte Passage fin-
det sich in Roland Barthes: Mythen des Alltags. Deutsch v. Helmut Scheffel. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1964, S. 33: âWarum erklĂ€rt die Kritik von Zeit zu Zeit ihre Ohnmacht oder ihre
VerstĂ€ndnislosigkeit? Es geschieht gewiĂ nicht aus Bescheidenheit, niemand fĂŒhlt sich wohler
als jemand, der bekennt, daĂ er nichts vom Existentialismus begreift, niemand ist ironischer
und niemand ist also selbstgewisser als ein anderer, der verschÀmt eingesteht, daà er nicht
das GlĂŒck habe, in die Philosophie des AuĂerordentlichen eingeweiht zu seinâ.Â
â Zu Handkes
BeschÀftigung mit den Mythen des Alltags vgl. bereits N. N.: Handke: Unerschrocken naiv. In:
Der Spiegel, Nr.Â
22, 25. 5. 1970, S.Â
174 â 190, hier S.Â
187; spÀter Christoph Bartmann: Suche nach
Zusammenhang. Handkes Werk als ProzeĂ. Wien: BraumĂŒller 1984, S. 88 â 92; Otto Lorenz:
Die Ăffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrate-
gien: Wolfgang KoeppenÂ
â Peter HandkeÂ
â Horst-Eberhard Richter. TĂŒbingen: Niemeyer 1998,
S. 195 f.; Carsten Zelle: Parteinahme fĂŒr die Dinge. Peter Handkes Poetik einer literarischen
PhĂ€no menologie (am Beispiel seiner Journale, 1975 â 1982). In: Euphorion 97 (2003), H. 1,
S.Â
99 â 117, hier S.Â
102.Â
â Auch in einer 1969 erschienenen Kritik hat Handke explizit auf Barthesâ
Mythen des Alltags hingewiesen: âGodard zeigt, daĂ auch die Dinge und PhĂ€nomene Sprache
sind, daĂ sie etwas âsagenâ, wie Roland Barthes es schon in den âMythen des Alltagsâ formulierte,
als er das Plakat beschrieb, das einen Afrikaner unter der Trikolore zeigteâ (Peter Handke: Ah,
Gibraltar! Die 19. Internationalen Filmfestspiele Berlin 1969. In: DIE ZEIT, Nr.Â
28, 11. 7. 1969).Â
â
Peter Hamm: Der neueste Fall von deutscher Innerlichkeit: Peter Handke. In: konkret, Nr.Â
12,
2. 6. 1969, S.Â
42 â 45, hier S.Â
45, hatte kurz zuvor die Mythen des Alltags gegen Handke in Stellung
gebracht: âWas theoretisch zu dem kleinbĂŒrgerlich elitĂ€ren BewuĂtsein, das sich in solchen
Zeilen ausplappert, zu sagen wĂ€re, hat Roland Barthes in seinen âMythen des Alltagsâ unten
den Stichworten âDas Weder-Nochâ und âDie Tautologieâ beschrieben; [âŠ] er hilft sich, ob er
politisch oder literarisch argumentiert, immer wieder mit âjener mythologischen Figur, die
Princeton 1966 und die Folgen 147
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471