Page - 152 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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kenntlich macht, daà ein richtiger erzÀhlender Satz, kaum niedergeschrieben, das
kĂŒnstlichste Ding auf der Welt ist, beschimpft er als âmodernistischâ, obwohl doch
gerade dieser Satz vom natĂŒrlichsten Ding auf der Welt redet.39
Jene Literatur, die Reich-Ranicki als ânatĂŒrlichâ oder ârealistischâ beschreibe und
bevorzuge, mache keineswegs âeine WirklichkeitÂ
[âŠ] sichtbarâ;40 vielmehr werde,
so Handke, âdie Verlogenheit einer sich als natĂŒrlich gebenden Literaturâ kennt-
lich, âdie jeden Satz als naturgegeben hinnimmtâ 41 und die linguistische Unter-
scheidung von signifié und signifiant, von Bezeichnetem und Bezeichnendem,
geflissentlich ignoriert: âEs wird nĂ€mlich verkannt, daĂ die Literatur mit der Spra-
che gemacht wird, und nicht mit den Dingen, die mit der Sprache beschrieben
werdenâ, hatte er bereits 1966 im Anschluss an die Princetoner Tagung sowohl
den Autoren als auch den Kritikern zum Vorwurf gemacht.42 Reich-Ranicki war
fĂŒr ihn schon damals ein charakteristischer, wenn nicht der charakteristische
Vertreter dieser Haltung.
Zwei Jahre spÀter beschreibt Handke den Kritiker nun als Agenten einer
unterkomplexen Vorstellung von Literatur, der zudem auf ungebĂŒhrliche Weise
mit seiner theoretischen Unbedarftheit kokettiere:
Reich-Ranicki kann man mit EinwÀnden nicht kommen: er kennt die alte List, sich
dumm zu stellen, weil er nicht argumentieren kann.Â
[âŠ]. âIch gesteheâ, leitet er dann
in der Regel seine SÀtze ein. Nachdem er aber seine VerstÀndnislosigkeit eingestanden
hat, zieht er ĂŒber das Nichtverstandene her.43
Handke verweist hier auf eine taktische Finte des Kritikers, eine Rhetorik, die
schon Roland Barthes in den Mythen des Alltags ins Visier genommen hatte:
[M]an hĂ€lt sich fĂŒr so intelligent, daĂ das EingestĂ€ndnis des Nichtverstehens die
Klarheit des Autors in Frage stellt, nicht aber die der eigenen Vernunft. Man spielt
BeschrÀnktheit, und das geschieht, um das Publikum leichter zum protestierenden
Aufschreien zu bewegen und es so auf vorteilhafte Weise von einer Gemeinsamkeit
der Ohnmacht zu einer solchen des EinverstÀndnisses zu bringen.44
39 Ebd., S.Â
204 f. Zum Aspekt der âNatĂŒrlichkeitâ bei Reich-Ranicki vgl. Franz Josef Czernin: Marcel
Reich-Ranicki. Eine Kritik. Göttingen: Steidl 1995, S.Â
60; Jan Wiele: Poetologische Fiktion. Die
selbstreflexive KĂŒnstlererzĂ€hlung im 20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2010, S. 202.
40 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm. 2), S. 205.
41 Ebd.
42 Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA (Anm. 11), S. 29.
43 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm. 2), S. 205.
44 Barthes: Mythen des Alltags (Anm. 25), S. 33.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki152
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471