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Ein Beispiel dafĂŒr findet sich auch in Reich-Ranickis Statement nach Handkes
Princetoner Lesung aus dem Manuskript des Hausierers: Den Hinweis eines
Vorredners auf die Bedeutung des Grazer âForum Stadtparkâ fĂŒr die literarische
Sozialisation Handkes konterte der Kritiker sĂŒffisant mit dem GestĂ€ndnis, er sei
âkein Kenner des Grazer Inventionismusâ, um angestachelt durch GelĂ€chter aus
dem Publikum hinzuzufĂŒgen: âIch gebe zu, dass mir die Theorie dieses Grazer
Inventionismus nur sehr oberflĂ€chlich bekannt ist.â 45 Noch vier Jahrzehnte spĂ€ter
sollte Handke in einer Laudatio auf JĂŒrgen Becker diese rhetorische Operation,
ohne den Namen Reich-Ranickis zu nennen, als Untugend der Literaturkritik
verzeichnen: âEin letztes Mal jetzt noch âder Kritikerâ: Zu dessen Rolle gehört
es, oder hat es gehört, sein Sichmokieren, Ablehnen, Nichtverstehen einzuleiten
mit einem âIch gesteheâ.â 46 Reich-Ranickis gerne fĂŒr sich in Anspruch genom-
mene Sentenz, die er in Die Literatur der kleinen Schritte seinem Aufsatz ĂŒber
Friedrich Sieburgs âexemplarisches Scheitern als Literaturkritikerâ vorange-
stellt hatteÂ
â âEin Literaturkritiker, der etwas taugt, ist immer eine umstrittene
Figurâ 47Â
â, quittiert Handke am Ende seines Essays mit der spielerischen Freude
des Polemikers: âVon mir aus ist Reich-Ranicki unumstritten.â 48
Bemerkenswert ist freilich, dass Reich-Ranicki Handkes Essay kurze Zeit
spĂ€ter, 1970, als einzigen âFremdtextâ in seine programmatisch zu verstehende
Sammlung Lauter Verrisse aufnahm.49 Es dĂŒrfte, so Reich-Ranickis Biograph
Uwe Wittstock, in der Geschichte der Literatur tatsĂ€chlich ânur selten den Fall
gegeben haben, dass ein Autor eine derartige fundamentale Polemik gegen die
45 Audioaufzeichnung Princeton 1966 (Anm. 1), Lesung Handke, Wortmeldung Reich-Ranicki,
37:20 â 37:35. Dazu auch Reich-Ranickis nachtrĂ€gliche Skepsis im Hinblick auf die Wirkung
der österreichischen Avantgarde-Strömungen nach 1945: âGerhard RĂŒhm und Oswald Wiener
und die Grazer Gruppe. Ich weià schon, das sind dringend nötige, wichtige Erscheinungen der
Gegenwartsliteratur. Aber so sehr viel ist daraus nicht geworden, glaube ich.â (Marcel Reich-
Ranicki: Der doppelte Boden. Ein GesprĂ€ch mit Peter von Matt. ZĂŒrich: Ammann 1992, S.Â
142)
46 Peter Handke: Gurken und Kiefern, Ăpfel und Schnee. Zu JĂŒrgen Becker. In: Sinn und Form
58 (2006), H. 6, S. 800 â 807, hier S. 803; wieder abgedruckt in: P. H.: Meine Ortstafeln. Meine
Zeittafeln. 1967 â 2007. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S.Â
272 â 279, hier S.Â
275. Vgl. dazu auch
Michaelsen/Handke: âAb und zu sticht mich ein Teufelchenâ (Anm.Â
30), S.Â
128: âAber er ist so
stolz auf seine BeschrĂ€nktheit. Das ist der Skandal.â
47 Marcel Reich-Ranicki: Friedrich Sieburg: Verloren ist kein Wort und Nicht ohne Liebe. In:
M. R.-R.: Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. MĂŒnchen: Piper 1967,
S. 247 â 256, hier S. 255 u. 247.
48 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm.Â
2), S.Â
207. Zum Problem der âunum-
strittenenâ Instanz Reich-Ranicki vgl. Schuh: All you need is love (Anm. 27), S. 62 f. u. 70 f.
49 Vgl. Peter Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit. In: Marcel Reich-Ranicki: Lauter
Verrisse. Mit einem einleitenden Essay. MĂŒnchen: Piper 1970, S.Â
167 â 171; in der â[e]rweiterte[n]
Neuausgabeâ von Lauter Verrisse aus dem Jahr 1984 fehlt Handkes Polemik; stattdessen findet
sich darin nun die vernichtende Besprechung von Handkes ErzÀhlung Die linkshÀndige Frau
(1976). Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 153
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471