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Wendung zu Beginn des Buches, âan die Arbeit machenâ wollen, âbevor das
BedĂŒrfnis, ĂŒber sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die
stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurĂŒckverwandelt, mit der ich auf die Nachricht
von dem Selbstmord reagierte.â 63 Ăberzeugt davon, dass die âDarstellung eines
Frauenlebensâ nur mittels der âBewusstmachung der Schablonen, mit denen
eine Vita produziert wirdâ,64 gelingen kann, beschreibt der Ich-ErzĂ€hler das
Problem einer Literarisierung biographischer RealitĂ€t als bestĂ€ndige âGefĂ€hr-
dung seines literarischen Unternehmensâ,65 weil man sich âauf der Suche nach
Formulierungenâ schon zwangslĂ€ufig âvon den Tatsachenâ entferne:
Nun ging ich von den bereits verfĂŒgbaren Formulierungen, dem gesamtgesellschaft-
lichen Sprachfundus aus statt von den Tatsachen und sortierte dazu aus dem Leben
meiner Mutter die Vorkommnisse, die in diesen Formeln schon vorgesehen waren;
denn nur in einer nicht-gesuchten, öffentlichen Sprache könnte es gelingen, unter
all den nichtssagenden Lebensdaten die nach einer Veröffentlichung schreienden
herauszufinden.66
Erst ĂŒber den dabei konstatierten Grad der Abweichung vom etablierten narra-
tiven Schema werde, so die Argumentation, die individuelle PrÀgung des ein-
zelnen Lebens erkenn- und damit auch beschreibbar: âIch vergleiche also den
allgemeinen Formelvorrat fĂŒr die Biographie eines Frauenlebens satzweise mit
dem besonderen Leben meiner Mutter; aus den Ăbereinstimmungen und Wider-
sprĂŒchlichkeiten ergibt sich dann die eigentliche SchreibtĂ€tigkeit.â 67 Das osten-
tative âVermeiden der ĂŒblichen Phraseologieâ 68 biographischen Schreibens wird
so zum Leitprinzip von Handkes Wunschlosem UnglĂŒck.
Diesem selbstreflexiven, die Bedingungen des Schreibens fortwÀhrend hinter-
fragenden literarischen Verfahren vermochte Reich-Ranicki nur wenig abzu-
gewinnen; von einer âbeinahe lobenden Rezensionâ 69 kann, denke ich, kaum
63 Peter Handke: Wunschloses UnglĂŒck. ErzĂ€hlung. Salzburg, Wien: Residenz 1972, S. 7.
64 Wagner: Handkes Arbeit am 19. Jahrhundert (Anm. 34), S. 409.
65 Peter PĂŒtz: Peter Handke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S.Â
54; vgl. auch Renner: Peter Handke
(Anm.Â
13), S.Â
85, sowie zur Gesamtanlage von Wunschloses UnglĂŒck Volker Bohn: âSpĂ€ter werde
ich ĂŒber das alles Genaueres schreibenâ. Peter Handkes ErzĂ€hlung Wunschloses UnglĂŒck aus
literaturtheoretischer Sicht. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 26 (1976), S.Â
356 â 379.
66 Handke: Wunschloses UnglĂŒck (Anm. 63), S. 42 f.
67 Ebd., S.Â
43. Dazu die immer noch erhellende Deutung bei PĂŒtz: Peter Handke (Anm.Â
65), S.Â
55.
68 Werner M. Bauer: Die deutschsprachige Literatur Ăsterreichs nach 1945. In: Literaturgeschichte
Ăsterreichs von den AnfĂ€ngen im Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Herbert Zeman. Graz:
Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1996, S. 511 â 563, hier S. 552.
69 Clemens Ăzelt: KlangrĂ€ume bei Peter Handke. Versuch einer polyperspektivischen Motivfor-
schung. Wien: BraumĂŒller 2012, S. 94, Anm. 247.
Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 157
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471