Page - 163 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Handkes Brief vom 29. April 1975 steigert sich im weiteren Verlauf vom Aus-
gangspunkt des âGeschĂ€ftlichenâ unversehens zum erneuten Angriff auf den
Adressaten. Der Plan, sich fĂŒr das literarische Werk seines Freundes Hermann
Lenz einsetzen zu wollen,93 wird von der Vorstellung, dies im Forum der FAZ,
d. h. in zweifelhafter Gesellschaft zu tun, getrĂŒbt:
Es ist im Insel-Verlag ein neues Buch von Hermann Lenz, âNeue Zeitâ, erschienen.
Das Buch sagt mir zu, es gibt in mir aber auch WiderstÀnde dagegen. Ich werde eine
âBesprechungâ schreiben und wĂŒrde die Ihrer Zeitung ĂŒberlassenÂ
â nur verdrieĂt es
schon ein biĂchen, daĂ ich von Ihrer Vorstellung von Literaturkritik wieder abhĂ€ngig
wÀre und mich also freiwillig in die Höhle des Marders begÀbe.94
Bereits diese Formulierung, die auf das wenig schmeichelhafte Tier-PortrÀt in
der Lehre der Sainte-Victoire vorausweist (dort wird ebenso von einem Marder
die Rede sein), kann als veritable Insultation des Kritikers gelten. Im letzten Teil
seines Briefes macht Handke seine EinwÀnde gegen Reich-Ranickis literaturkri-
tische Praxis auch an einem aktuellen Beispiel fest:
Gestern las ich, was Sie zu Rolf Dieter Brinkmann und seinem Tod schrieben.[ 95] So
recht es war, daĂ da was Langes ĂŒber diesen poetischen Menschen stand, so unan-
genehm berĂŒhrt war ich doch, daĂ Sie ihm den Ausspruch mit dem NiederschieĂen
jetzt noch vorwerfen. Das war nichts Gemeines, WiderwÀrtiges, sondern eine hilflose
Formulierung eines fleischlichen Ekels, die ich wohl begreifen und immer noch nach-
fĂŒhlen kann, wenn ich mir die Versammlung der in strotzender Routine röchelnden
SekundÀrliteraten vorstelle, die ihren Frieden mit der Welt sehr vorschnell abgeschlos-
sen haben oder dies zumindest materiell erfolgreich vortÀuschen.96
âReich-Ranicki von der FAZ meint, Nabl sei zu wenig bekannt in der BRD, als daĂ man in einer
Zeitung so einen Aufsatz bringen könnteÂ
â und so sei es mehr ein Artikel fĂŒr eine âZeitschriftâ.
Ich habâ noch nicht widersprochen âŠâ
93 Dazu ausfĂŒhrlich Kap.Â
V, Abschnitt âEin Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann
Lenzâ.
94 Handke an Reich-Ranicki, 29. 4. 1975 (Anm. 92).
95 Es handelt sich dabei um den folgenden Beitrag: Marcel Reich-Ranicki:Â
⊠aber ein Poet war er
doch. Zum Tod des Rolf Dieter Brinkmann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 4. 1975, einen
Nachruf auf den am 23. 4. 1975 bei einem Verkehrsunfall getöteten Autor. Darin findet sich etwa
die folgende psychologisierende Analyse des Schriftstellers: âNicht Kraft oder SelbstbewuĂtsein
oder Ăbermut lieĂ er erkennen, sondern Unsicherheit und SchwĂ€che, Hilflosigkeit und Ohn-
macht. Die brutale AggressivitÀt zeugte ebenso von panischer Angst wie von Geltungssucht.
Brinkmann war ein verwirrter Rebell, der sich in die Rolle eines provozierenden Berserkers
geflĂŒchtet hatte. Da er nicht anders mit seiner Umwelt fertig werden konnte, versuchte er es
als wild um sich schlagender Anarchist.â
96 Handke an Reich-Ranicki, 29. 4. 1975 (Anm. 92).
Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre 163
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471