Page - 193 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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gefĂŒhrt hatten, einige Jahre spĂ€ter im GesprĂ€ch mit Peter von Matt selbst weiter
tradiert: âHandke war und ist natĂŒrlich gekrĂ€nkt und beleidigt. Und irgend-
wann hat er in der Wohnung seines Verlegers Siegfried Unseld ein Buch von mir
mit einer Widmung fĂŒr ihn, Unseld, gefunden. Er hat wohl damals verlangt, er
sollte die Beziehung mit einem so schrecklichen Kritiker sofort abbrechen.â 242
Erneut bekundete Reich-Ranicki bei dieser Gelegenheit, sich fĂŒr die Literatur
des âangeblich so fabelhaften Handkeâ nur eingeschrĂ€nkt begeistern zu können.
Selbst das vermeintliche Lob fĂŒr dessen SprechstĂŒcke der 1960er Jahre entpuppt
sich dabei als hintersinnige Abwertung:
Offen gesagt: Mich hat dieser auĂerordentlich erfolgreiche Schriftsteller nie sonderlich
beeindruckt. Interessiert haben mich seine frĂŒheren Einakter wie Publikums-
beschimpfung, Weissagung oder Hilferufe. Das war, glaube ich, hochbegabtes Studen-
tentheater. [âŠ] In den siebziger Jahren habe ich zwei BĂŒcher von ihm entschieden
abgelehnt: Die linkshÀndige Frau und Langsame Heimkehr. Man warf mir vor, ich
hĂ€tte keinen Sinn fĂŒr den angeblich so fabelhaften Handke. In der Tat interessieren
mich seine BĂŒcher immer weniger.243
Der Vorwurf, als Autor auch ökonomisch erfolgreich zu sein, der Topos des
âDesinteressesâ sowie das Beharren darauf, mit seiner Skepsis gegen den Main-
stream der Literaturkritik anzuschreiben: Reich-Ranickis ĂuĂerungen im
GesprĂ€ch mit Peter von Matt fĂŒgten den bekannten EinwĂ€nden nichts wesent-
lich Neues hinzu; sie waren im Grunde eine Reprise seiner Besprechungen
der 1970er Jahre.
âSeit zwölf Jahrenâ habe er, so der Kritiker weiter, ânichts mehr ĂŒber ihn
geschriebenâ.244 TatsĂ€chlich war mit dem Verriss von Langsame Heimkehr auch
die letzte Printrezension eines Handke-Buches aus der Feder Reich-Ranickis
erschienen. Der Bekanntheitsgrad des Kritikers als ânational figureâ 245 und Ins-
tanz des Literaturbetriebs hatte durch seine PrÀsenz im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen stark zugenommen; die im Literarischen Quartett lancierten Verrisse
und Lobreden erreichten ein beachtlich groĂes Publikum.246 Ein knappes Jahr vor
242 Reich-Ranicki: Der doppelte Boden (Anm. 45), S. 10 f.
243 Ebd., S. 10.
244 Ebd.
245 Demetz: On Marcel Reich-Ranicki (Anm. 21), S. 291.
246 Zu Reich-Ranickis Rolle im Literarischen Quartett vgl. Peter Sprengel: Der AuthentizitÀtsdis-
kurs der literarischen Moderne. Von Heinrich Heine bis Hubert Fichte, mit einem einleitenden
Exkurs zum âLiterarischen Quartettâ. In: Das Authentische. Referenzen und ReprĂ€sentationen.
Hg. v. Ursula Amrein. ZĂŒrich: Chronos 2009, S. 53 â 65, bes. S. 53 â 56. Vgl. auĂerdem Steiner:
Literatur als Kritik der Kritik (Anm. 29), S. 138 f.; zu den Diskussionen ĂŒber das Literarische
Quartett allg. s. Albrecht: Literaturkritik (Anm.Â
9), S.Â
60 f., sowie Sibylle Cramer: Literaturkritik.
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 193
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471