Page - 196 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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PortrÀt zum 70. Geburtstag Hans Erich Nossacks, Anfang 1971 in der ZEIT ver-
öffentlicht, merkte der Kritiker freilich noch an, âdie virtuose Verwendung der
indirekten Redeâ sei âbei Bernhard lĂ€ngst zur ermĂŒdenden Manier erstarrtâ.257
Auch im RĂŒckblick hat sich Reich-Ranicki ĂŒber die frĂŒhen BĂŒcher Bernhards
wenig begeistert geĂ€uĂert und den autobiographischen ErzĂ€hlungen sowie der
Prosa der 1980er Jahre stets den Vorrang eingerÀumt.258
Er habe, so der Kritiker in seiner Autobiographie Mein Leben, mit Bernhard
immer wieder âentspannte und angenehme Plaudereienâ gehabt: âIch habe ihn
mehrfach getroffen: in Berlin, in Frankfurt und in Salzburg und einmal, im August
1982, im oberösterreichischen Ohlsdorf.â 259 Seine GesprĂ€che mit Bernhard hĂ€tten
zwar, wie Reich-Ranicki in einem 1990 publizierten Band schreibt, âin der Regel
nicht viel ergebenâ, seien aber gerade deshalb âangenehmâ gewesen, âweil wir nie-
mals auch nur erwĂ€hnten, was wir beruflich machten: Ich wollte nichts ĂŒber seine
Arbeit erfahren, und auch er stellte keine Fragen, die auf Literatur oder Kritik
abzielten.â 260 Nachdem er, eigenen Angaben zufolge, die autobiographischen BĂ€nde
Bernhards âbegeistert besprochenâ hatte,261 Ă€uĂerte sich Reich-Ranicki im Laufe
der 1980er Jahre wiederholt positiv ĂŒber Neuerscheinungen des Autors, sowohl
ĂŒber Wittgensteins Neffe (1983) als auch ĂŒber HolzfĂ€llen (1984):262 Obschon âdie
Wahrheit. Deutsche Geschichten seit 1945. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. MĂŒnchen: Piper 1965,
S.Â
477 â 493. Als die Anthologie 1972 auf zwei BĂ€nde (Erfundene Wahrheit. Deutsche Geschichten
1945 â 1960 und Verteidigung der Zukunft. Deutsche Geschichten seit 1960) erweitert wurde,
ersetzte Reich-Ranicki den Zimmerer durch Die MĂŒtze (1967). â FĂŒr die Genehmigung zum
Abdruck des Bernhard-Briefes an Reich-Ranicki danke in Peter Fabjan.
257 Marcel Reich-Ranicki: Der hanseatische Poet. [1971] In: M. R.-R.: Entgegnung [1979] (Anm.Â
237),
S. 42 â 46, hier S. 45.
258 Vgl. Hans Haider: Die kleine Fehlbarkeit des Literaturpapstes? [GesprÀch mit Marcel Reich-
Ranicki.] In: Die Presse, 16. 8. 1994.
259 Reich-Ranicki: Mein Leben (Anm. 52), S. 443.
260 Marcel Reich-Ranicki: Nachwort. In: M. R.-R.: Thomas Bernhard (Anm. 122), S. 95 â 103, hier
S. 102. Vgl. Reich-Ranicki: Mein Leben (Anm. 52), S. 443: âBernhard gehörte zu den nicht
wenigen Schriftstellern, die Literatur schufen [âŠ], die sich aber fĂŒr Literatur nicht sonder-
lich interessierten.â Bernhards Freund und WeggefĂ€hrte Wieland Schmied hat den Verlauf
der GesprĂ€che mit Reich-Ranicki folgendermaĂen interpretiert: âEr muĂte sich gegen das
Unbekannte wappnen. Damals erzĂ€hlte er mir: âMit Reich-Ranicki habe ich nur ĂŒber WĂŒrste
gesprochen, als ich ihn getroffen habe.â Er wollte einem GesprĂ€ch ĂŒber Literatur ausweichen,
damit sich nicht plötzlich herausstellt, daà er gar nicht so viel weià wie der andere. Dieser
Möglichkeit ist er entgangen, indem er ĂŒber banale Dinge des alltĂ€glichen Lebens gespro-
chen hat, wie zum Beispiel davon, was er gerne iĂt.â (Wieland Schmied: Auersbergers wahre
Geschichte und andere Texte ĂŒber Thomas Bernhard. Ein Alphabet. Vorwort v. Hans Höller.
Weitra: Bibliothek der Provinz [2014], S. 57)
261 Reich-Ranicki: Mein Leben (Anm. 52), S. 443.
262 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Thomas Bernhards Bolero. Ăsterreichs groĂer EinzelgĂ€nger wird von
Buch zu Buch besser: HolzfÀllen. Eine Erregung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 9. 1984.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki196
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471