Page - 199 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Tatsächlich erinnern sein Agieren im literarischen Feld, sowohl was den
Drang nach Aufmerksamkeit (bei Beteuerung des Gegenteils) als auch was die
Tendenz zu polemischer Zuspitzung betrifft, und seine „permanente[ ] Bereit-
schaft zum Konflikt“ 274 an das Selbst- und Wunschbild des „Übertreibungskünst-
ler[s]“ Thomas Bernhard (TBW 8, 478): „Wenn wir unsere Übertreibungskunst
nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich lang-
weiligen Leben verurteilt“ (TBW 8, 101), lässt der Autor seinen Protagonisten
Franz-Josef Murau in Auslöschung. Ein Zerfall (1986) sagen – ein Credo, das
auch Bernhard selbst nicht fremd war: „Um etwas begreiflich zu machen“, so
eine der meistzitierten Passagen des Buches, „müssen wir übertreiben,
[…] nur
die Übertreibung macht anschaulich“ (TBW 8, 101).275 Der emphatisch-hyper-
bolische Superlativ, im Positiven wie im Negativen, gehörte bei Bernhard ebenso
wie bei Reich-Ranicki zum Standardrepertoire ihrer Rhetorik; dem Kritiker galt
die Übertreibung dabei insbesondere als Möglichkeit der Popularisierung, der
Wirkung auf ein breiteres Publikum: „Man soll übertreiben, überspitzen, um sich
verständlich zu machen.“ 276 Auch hier kann Peter Handke als Gegenpol gelten:
Ein Jahr nach dem Erscheinen von Auslöschung hielt er in einem Gespräch mit
Lothar Schmidt-Mühlisch fest, dass ein Schriftsteller „nie grell“ sein dürfe, „ein
Dichter übertreibt nie. Es ist ein dummer Spruch von Thomas Bernhard, daß
274 Gerhard Roth: o. T. In: Reich-Ranicki: Kritik als Beruf (Anm. 17), S. 99 – 101, hier S. 101.
275 In der Bernhard-Forschung hat sich der Begriff durch den folgenden Band verfestigt: Wendelin
Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien: Sonderzahl
1986. Vgl. auch Hermann Korte: Dramaturgie der „Übertreibungskunst“. Thomas Bernhards
Roman Auslöschung. Ein Zerfall. In: Text + Kritik (31991), H.
43, S.
88 – 103; Tim Reuter: „Vater-
land, Unsinn“. Thomas Bernhards (ent-)nationalisierte Genieästhetik zwischen Österreich-
Gebundenheit und Österreich-Entbundenheit. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013,
S. 262 – 286. – Freilich bezeichnen Bernhards Figuren das Übertreiben selbst des Öfteren als
ungerechtes, moralisch fragwürdiges Vorgehen, etwa der Erzähler von Der Untergeher (1983):
„Wie immer, übertrieb ich auch jetzt und es war mir vor mir selbst peinlich, […] so, dachte
ich, gehe ich immer gegen Andere vor, ungerecht, ja verbrecherisch. An dieser Ungerechtig-
keitseigenschaft habe ich immer gelitten, dachte ich.“ (TBW 6, 133)
– Andreas Dorschel: Lako-
nik und Suada in der Prosa Thomas Bernhards. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2007/2008,
S. 215 – 233, hier S. 228, hat die Vermutung geäußert, der Gestus der „Übertreibung“ sei bei
Bernhard (bzw. in Bernhards literarischen Texten) „nichts weiter als ein Trick der Selbstbe-
hauptung, der das knappe Gut Aufmerksamkeit von anderen abzieht und auf den Übertrei-
benden zieht“.
276 Rolf Becker/Hellmuth Karasek: „Ich habe manipuliert, selbstverständlich!“ Kritiker Marcel
Reich-Ranicki über seine Rolle im Literaturbetrieb und seinen Abgang von der FAZ. In: Der
Spiegel, Nr. 1, 2. 1. 1989, S. 140 – 146, hier S. 144. Dazu auch Reich-Ranicki: Entgegnung [1979]
(Anm. 237), S. 14: „Nun scheint es mir angebracht, an ein so knappes wie verblüffendes Wort
von Auguste Rodin zu erinnern: ‚Man soll übertreiben.‘ […] Denn wovor sich der Literatur-
wissenschaftler hüten sollte, das darf sehr wohl der Kritiker: Ähnlich wie der Pamphletist hat
er das Recht und bisweilen sogar die Pflicht zu übertreiben und zu überspitzen.“
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 199
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471